Anne Challandes
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Mein achtsamer Blick:

Christian Cebulj, Rektor der Theologischen Hochschule Chur

Für eine neue christliche Friedensethik

Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine, den der russische Präsident nun schon seit über zwei Monaten führt, füllt die Kirchen wie seit Langem nicht mehr. Zahllose Friedensgebete locken wieder grosse Mengen von Menschen in die Gotteshäuser, die sich eigentlich schon von Gottesdiensten und christlicher Praxis verabschiedet hatten. Jetzt aber höre ich immer wieder: Gut, dass ihr diese Friedensgebete veranstaltet, ich muss doch irgendwo hin mit meiner Angst und meiner Wut.

Die vollen Kirchen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine grosse Unsicherheit gibt, wie und wofür wir gegenwärtig eigentlich genau beten sollen. Bei jedem Friedensgebet überkommt mich das ohnmächtige Gefühl, wie hilflos es doch eigentlich ist, angesichts der permanenten Bombenangriffe immer wieder neu Friedensappelle zu formulieren. Zwar ist das Engagement sehr eindrucksvoll, das den Opfern des Krieges gilt. Die Aufnahme von Geflüchteten wird sich in Europa als völkerverbindend erweisen. Sie ist kostspielig, aber wird sich in Zukunft als Friedensdividende auszahlen. Gleichzeitig ist fraglich, wie unter den aktuellen Umständen eine christliche Friedensethik aussehen kann, die mehr im Sinn hat, als die Legitimität des Einsatzes von Waffen zur Landesverteidigung zu reflektieren. Welche Möglichkeiten gibt es für die Ausbildung eines evangeliumsgemässen Pazifismus? Welche Zeichen können die Kirchen setzen, um zur völkerverbindenden Kriegsdienstverweigerung anzustiften? Wie soll man einem Gewissenlosen wie Präsident Putin ins Gewissen reden?

Die Erfahrungen der letzten beiden Kriegsmonate haben gezeigt, dass unsere christliche Friedensethik, die in den langen 30 Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stark von einem selbstverständlichen Pazifismus geprägt war, neu buchstabiert werden muss. Wir hatten uns so sehr an den glücklichen Zustand des Friedens gewöhnt, dass wir dachten, ein Krieg in Europa sei ein Relikt aus dunkler Vergangenheit. Die letzten zwei Monate haben uns gelehrt, dass diese Auffassung als naiv gelten muss. Vielmehr muss die Friedensethik der christlichen Theologien und Kirchen durch eine Sicherheitsethik ergänzt werden. Sie ist nötig, wenn wir nicht zulassen wollen, dass ein Autokrat wie Putin, der in seiner eigenen Welt lebt und an das historische Grossmachtideal der russischen Zarenzeit anknüpfen will, sein eigenes Volk in die Irre führt und im Nachbarland mordet und zerstört.

Unsere Friedensgebete zeigen, wie sehr Mystik und Politik, Glaube und Einsatz für Gerechtigkeit zusammengehören. Das befreit uns nicht von zahlreichen ethischen Dilemmata, etwa ob Waffenlieferungen zur Verteidigung der Freiheit erlaubt sind oder nicht. Es führt uns aber neu die jüdisch-christliche Grundüberzeugung vor Augen, dass jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Das beinhaltet im Konfliktfall auch, dass jeder Mensch Schutz vor brutaler militärischer Gewalt verdient. Gerechter Friede ist zerbrechlich geworden in unseren Tagen, umso wichtiger bleiben gerade jetzt die Friedensgebete, um Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ihrer Sehnsucht nach Frieden Raum und Stimme zu geben.       

Christian Cebulj ist  Rektor der Theologischen Hochschule Chur und Professor für Religionspädagogik und Katechetik.

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