volodymyr hryshchenko
  • Facebook
  • Twitter

Grossflächige Tätowierungen, Piercings, exzessives Muskeltraining und chirurgische Eingriffe: Der Männerkörper ist heute zum Spielfeld der Selbstdarstellung  geworden. Er soll die Persönlichkeit vermitteln. Das geht zunehmend Hand in Hand mit Essstörungen.

Anton Ladner

Essstörungen bei Männern werden seltener diagnostiziert, weniger schnell erkannt und in den Medien eher stiefmütterlich behandelt. Beispiele für die Darstellung von weiblicher Anorexie gibt es zahlreiche, auch in Filmen, aber die männliche Form liegt im Dunkeln. Dennoch äussert sich männliche Körperunzufriedenheit zunehmend in Anorexie, Bulimie und Hyperphagie. Bei der Hyperphagie handelt es sich um immer wiederkehrende, nicht kontrollierbare Essakttacken, die unabhängig von einem Hungergefühl stattfinden. Als Ursachen sind heute ein negatives Selbstbild, Missbrauchserlebnisse und andere kritische Lebensereignisse bekannt. Im Gegensatz zu Frauen neigen Männer zunehmend zur Bigorexie, zu einer Muskelsucht. Sie tritt häufiger bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 24 Jahren auf und gilt als psychologisches Problem, das durch das verzerrte Selbstwertgefühl eines Menschen bestimmt wird, wenn seiner Meinung nach der eigene Körper weit davon entfernt ist, ideal zu sein. Die übermässige Aufmerksamkeit in den sozialen Medien auf die ästhetische Seite der Schönheit des menschlichen Körpers spielt dabei eine wachsende Rolle. Die sozialen Medien akzelerieren eine Konzentration auf äussere Mängel, was zu einem komplexen Minderwertigkeitsgefühl führen kann. Diese neuen männlichen Formen von Essstörungen hat der französische Psychiater Jean Victor Blanc in seinem Buch «Pop & Psy» vertieft. Im Gegensatz zu Anorexie oder Bulimie, bei denen man nach Schlankheit strebt, handelt es sich im Fall von Bigorexie bei vielen Männern heute um eine Suche nach Muskeln. Aber dabei gelten die gleichen Mechanismen wie bei der Magersucht: je mehr Muskeln, desto grösser die Unzufriedenheit des Betroffenen. Er ist zwanghaft körperlich aktiv und hält eine unflexible und extreme Diät, sodass schon allein diese Gewohnheiten zu einer Isolation führen können. Man geht kaum mit Freunden zum Essen, um seine Diät einzuhalten, und die intensive sportliche Betätigung beschneidet normale soziale Interaktionen. Für Jean Victor Blanc nimmt dieses Lebensmuster eine Sektenform an, die auch zu einer Verherrlichung von körperlichem Schmerz durch extremes Training mit harter Diät führen kann. Bigorexie kann zudem körperliche Verletzungen zur Folge haben, da man sich ständig in der Anstrengung überbietet, optisch immer bemerkenswertere Ergebnisse zu erzielen. Diese exzessiven Verhaltensweisen sind oft Symptome anderer Störungen, wie die der Körperdysmorphophobie, die durch eine Besessenheit bezüglich eines oder mehrerer Körperteile gekennzeichnet ist. Das führt zum Beispiel zu einem exzessiven Bizeps oder Oberschenkeln, die im Gesamtbild völlig übertrieben erscheinen – für den Betroffenen aber nicht. In diesen Fällen erfolgt der Zugang zu einer medizinischen Behandlung viel später als bei Frauen, die magersüchtig sind. Denn es besteht bei Männern eine soziale Akzeptanz für solche übertriebenen Verhaltensarten. Wer viel zu stark seine Muskeln trainiert, eine harte Diät hält, wird lange Zeit Komplimente erhalten, auch wenn der Punkt zu einem krankhaften Verhalten längst überschritten ist. In der Regel gehen die Betroffenen aus einem anderen Grund zum Arzt, wie wegen einer Schleimbeutelentzündung oder einer gerissenen Sehne.

Hinzu kommt, dass junge Männer in Filmen und TV-Serien, sogar die Nebenfiguren, oft unwirkliche Körperformen haben. Das Übertriebene wird als Norm dargestellt, was an jungen Menschen nicht spurlos vorübergeht.

Share This