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Rund eine Million Menschen in der Schweiz leidet an Migräne. Eine aktuelle Studie des indischen nationalen Instituts für psychische Gesundheit und Neurowissenschaften empfiehlt Betroffenen, für Notfälle ein Stück Ingwer bereitzuhalten. Denn Schritt um Schritt bestätigt die moderne medizinische Forschung lange vermutete Eigenschaften der Wunderwurzel.

von John Micelli

Glaubt man der chinesischen Mythologie, war der ehrwürdige Meister Shennong ein Teufelskerl:  Er soll nicht nur die Hacke, den Pflug, die Axt, das Graben von Brunnen und die landwirtschaftliche Bewässerung erfunden, den wöchentlichen Bauernmarkt und den chinesischen Kalender eingeführt sowie verschiedene medizinische Praktiken verfeinert haben. Der legendäre erste chinesische Kaiser gilt auch als Autor des «Shennong Bencaojing», das mindestens 2500 Jahre alte Buch über Ackerbau und Heilpflanzen, das Ingwer gegen Erkältungskrankheiten und Verdauungsbeschwerden empfiehlt. In Indien gilt Ingwer dagegen als Nahrung für den Feuergott Agni, ein wohltätiger Vermittler zwischen Menschen und Göttern, der sich in jedem Lebewesen als «Verdauungsfeuer» manifestiert und deshalb in der Gesundheitslehre des Ayurveda eine wichtige Rolle spielt. Dieses Verdauungsfeuer soll entscheidenden Einfluss haben auf die Lebenskraft: Ist das «Agni» ausgeglichen, fühlen wir uns stark und zufrieden, ist es schwach, fehlen uns Antrieb und Appetit. Wenig erstaunlich also, dass Ingwer in der ayurvedischen Medizin sowohl frisch als auch getrocknet hohes Ansehen geniesst und bei einer Vielzahl von Krankheiten und Beschwerden – Stoffwechsel- und Verdauungsschwäche, Atemwegserkrankungen, Menstruationsbeschwerden oder rheumatische Arthritis – zur Behandlung empfohlen wird.

Ideal für die Hausapotheke
Aus Indien stammt nun auch die jüngste schulmedizinische Erkenntnis über die Inhaltsstoffe des Rhizoms – der Wurzelstock – des Ingwers. «Ingwer gilt schon lange als wirksames Hausmittel gegen den akuten Migräneanfall, das sowohl gegen die Kopfschmerzen als auch gegen die damit verbundene Übelkeit wirkt», erklärt Chittaranjan Andrade, Professor für klinische Pharmakologie und Neurotoxikologie aus Bengaluru, im Gespräch mit dem medizinischen Fachportal Medscape. Zusammen mit seinem Team am National Institute of Mental Health and Neuroscience (NIMHANS) wertete er für eine Metaanalyse verschiedene randomisierte kontrollierte Studien aus, in denen Ingweranwendungen mit Placebos verglichen wurden. Schon prophylaktisch eingesetzt, halbierte Ingwer die monatlichen Migräneepisoden bei rund 40 Prozent der Probandinnen und Probanden – der Unterschied zur Kontrollgruppe allerdings war zu klein, um eine medizinische Empfehlung zu rechtfertigen. Deutlich aber war der Nutzen des Heilkrautes bei akuten Anfällen: Der Anteil der Patientinnen und Patienten, die zwei Stunden nach der Einnahme schmerzfrei waren, erhöhte sich signifikant. Vermindert um die Hälfte wurde dagegen das Risiko für Übelkeit und Erbrechen im Rahmen der Migräne. Unerwünschte Nebenwirkungen konnten keine festgestellt werden. Bevor Andrade allerdings eine formelle klinische Empfehlung formulieren kann, braucht es weitere Forschung: «Ingwer weist ein breites Spektrum an chemischen Inhaltsstoffen auf, und wir wissen nicht, welche davon, sei es einzeln oder in Kombination, bei Migräne helfen», so der Professor: «Wir werden die Antwort erst kennen, wenn klinische Studien mit einzelnen Bestandteilen und nicht mit Ingwerextrakt durchgeführt werden.» Aber angesichts der hohen Zahl Betroffener von Migräne und der therapeutischen Lücke in der Primärversorgung sei ein gut verfügbares und einfaches Hausmittel wie der Ingwer sehr hilfreich, ergänzt der Forscher. Und wird dabei von anderen Fachleuten unterstützt: «Für Menschen mit Migräne, die eine rezeptfreie Therapie mit minimalen Nebenwirkungen suchen, ist Ingwer eine gute Sache», kommentiert Jessica Ailani, Professorin für klinische Neurologie am Georgetown University Hospital in Washington DC, die Studie ihre Berufskollegen aus Indien.

Grenzen des Wundermittels
Die Anwendung ist denkbar einfach: Ein halber Teelöffel getrockneter und gemahlener Ingwer in einem Glas Wasser verrührt oder ein Teelöffel frisch geriebener Ingwer mit heissem Wasser aufgebrüht hilft gegen zahlreiche Gebrechen. Roman Huber, Leiter des Zentrums für Naturheilverfahren am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau, allerdings dämpft Hoffnungen auf Wunder. Die Erkenntnisse aus Bengaluru zieht er nicht in Zweifel: «Die wichtigsten Inhaltsstoffe des Ingwers sind die Scharfstoffe. Sie wirken auf unser Übelkeitsempfinden und gegen Erbrechen, das ist die Hauptwirkung, die man bisher gefunden hat», erklärte der Internist. Die Wirkung von Ingwer bei Reise- oder Schwangerschaftsübelkeit sei hinreichend erforscht und bestätigt, sogar Übelkeit als Nebenwirkung bestimmter Chemotherapien lindere das Heilkraut. Von einem Nutzen gegen Erkältungskrankheiten könne ausgegangen werden, entsprechende Studien aber würden fehlen. Und der äusseren Anwendung – beispielsweise als Wickel nach Sportverletzungen – bescheinigt Huber dank der wärmenden Wirkung des Ingwers «gutes Potenzial». Andere Eigenschaften aber, die der in den vergangenen Jahren zum «Superfood» aufgestiegenen Pflanze zugeschrieben werden, bezeichnet der Experte für Naturheilverfahren als Mythen: «Ingwer wirkt nicht blutverdünnend. Auch den Blutdruck kann man mit Ingwer nicht senken.» Ebenso wenig habe ein Nachweis erbracht werden können, dass die Wurzel bei der Gewichtsabnahme helfe, so Huber: «Eine verdauungsfördernde Wirkung ist dem Ingwer sicherlich zuzusprechen. Aber davon nimmt man nicht ab, sondern da verdaut man einfach besser.»

 

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