volodymyr hryshchenko
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Die Verkehrsprobleme im malerischen Klöntal sind notorisch. Einer der idyllischsten Seen der Schweiz in überwältigender Bergkulisse zieht an schönen Sommertagen die Massen an. Mit sogenannten «Mitfahrbänggli» versucht die Gemeinde Glarus, die Zahl der Fahrzeuge auf der schmalen Bergstrasse zu verringern. Die «Mitfahrbank» erfunden aber haben nicht die Glarner.

John Micelli

Auch sie selbst sitze gelegentlich auf der Bank, erklärt Gemeindepräsidentin Jannine Brijker. 2018 hat Masein, ein Konglomerat von sechs Fraktionen am Hang des Heinzenbergs oberhalb von Thusis, die Mitfahrbank als Ergänzung zum Postauto eingeführt. Der gelbe Bus fährt nur einmal pro Stunde den Berg hoch oder runter. Wer dazwischen nach Tschappina, Flerden oder Thusis will, klappt an einem der beiden Standorte die entsprechende Tafel aus, setzt sich auf die Bank und wartet. «Das erste oder zweite Auto nimmt mich jeweils mit», zitiert das Regionaljournal des Schweizer Fernsehens Dorfbewohner und Vielfahrer Matthias Schaffner. Der Anstoss zur Einführung der Mitfahrbänke kam von Brijkers Vorgängerin: «Ich hatte irgendwo gelesen, dass es das in Deutschland gibt. Ich dachte, das wäre auch für uns eine gute Sache», erinnert sich Beatrix Vital. Rund 3000 Franken sei in das Projekt investiert, das Angebot bereits nach wenigen Wochen rege genutzt worden. Auch fünf Jahre später, bestätigt Rijker, lasse sich in der 500-Seelen-Gemeinde Alt und Jung gelegentlich auf der Mitfahrbank nieder, um in die anderen Dorfteile oder in den Talgrund gefahren zu werden. Allerdings müsse immer wieder auf das Angebot hingewiesen werden, ein Selbstläufer sei so eine Mitfahrbank nicht. Und wahrscheinlich funktioniere das Konzept dort am besten, wo es nur wenige mögliche Fahrtrichtungen gebe: «Ein Netzwerk zu betreiben wäre sicher schwieriger.»

Recht auf Mobilität

Dieses anspruchsvolle Ziel hat sich die Örtliche Kommission zur Ländlichen Entwicklung der Gemeinde Raeren im deutschsprachigen Ostbelgien gesetzt. Zusammen mit den Nachbargemeinden Lontzen und Eupen hat sie seit 2018 nach und nach den Kanton an der Grenze zu Deutschland mit 28 Mitfahrbänken bestückt, fünf weitere für Bütgenbach in der südlich anschliessenden belgischen Eifel sind derzeit in Planung. Im Interview mit dem Belgischen Rundfunk zieht Koordinatorin Claudia Schmitz eine gemischte Bilanz: «Die Mitfahrbank ist nichts für jemanden, der Termindruck hat.» Unter Umständen könne es bis zu 20 Minuten dauern, bis man mitgenommen werde, die höchsten Frequenzen hätten erwartungsgemäss Bänke an grossen Strassen. Für Schmitz aber geht es um mehr als Verkehr und Transport. Vielmehr stört sie, dass immer mehr Menschen im ländlichen Raum – allen voran Jugendliche sowie Seniorinnen und Senioren – ihr Recht auf Mobilität nicht wahrnehmen könnten: «Es ist ein Projekt von Bürgern für Bürger, es ist kein Massentransportmittel, sondern es ist ein Nischenprodukt. Es ist eine zusätzliche Fahrkarte für die ländliche Bevölkerung und ich glaube, dass die Dorfgemeinschaften wieder mehr zusammenrücken sollten. Wir brauchen mehr Wir und weniger Ich.» Über das Angebot in Eupen und Umgebung informiert eine Broschüre, die Standorte der Bänke kann man auf einer interaktiven Karte abrufen und für das Auto gibts in lokalen Geschäften gratis einen Aufkleber, der Mitnahmebereitschaft signalisiert. Der ist aber nicht Voraussetzung – mitmachen kann jeder und jede. Einzig Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht mitgenommen werden, Jugendliche unter 18 nur mit schriftlicher Einwilligung der Eltern. 

«Eine gute Tat»

Ennet der Grenze in Deutschland sind Mitfahrbänke bereits weit verbreitet. Von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg haben zahlreiche Kommunen Mobiliar aufgestellt, Konzepte erarbeitet und umgesetzt. Genutzt würden sie allerdings kaum, schreibt die Süddeutsche Zeitung in einer Übersicht und unterstellt den Behörden, dass mancherorts die Mitfahrbänke bloss eine Alibifunktion für eine verkorkste Verkehrspolitik erfüllen würden. Viele Unsicherheiten würden potenzielle Nutzerinnen und Nutzer abhalten: die unberechenbare Wartezeit und die Ungewissheit, wer da anhält oder wer da zu einem ins Auto steigt. Um die Angst vor Fremden zu bannen, setzen manche Projekte auf eine Registrierungspflicht für Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder auf digitale Instrumente ähnlich einer Online-Mitfahrzentrale. Höhere Hürden allerdings schmälern die Attraktivität eines Angebots, das eben gerade durch seine Einfachheit überzeugen soll, und elektronische Lösungen erschweren die Teilnahme für diejenigen, die keine mobilen Geräte nutzen können oder wollen. In der Schweiz – neben Masein auch im Toggenburg, im Saanenland, in den Thurgauer Gemeinden Bichelsee und Märstetten, im zürcherischen Andelfingen, im basellandschaftlichen Blauen und im aargauischen Leuggern – setzt man daher auf Vertrauen. Und das offenbar zu Recht: Gemeindepräsidentin Brijker jedenfalls kann aus bald fünf Jahren Betrieb der Maseiner Mitfahrbank von keinem negativen Ereignis berichten. Und aus dem Glarnerland schildert 20 Minuten die Situation euphorisch. Seit vergangenem Jahr findet man dort fünf feuerrote «Mitfahrbänggli» an drei Standorten im Hauptort für die Bergfahrt, an zweien für die Rückkehr vom beliebten Ausflugsziel Klöntalersee. An rund einem Dutzend Tagen musste 2021 die Zugangsstrasse in das Hochtal am späten Vormittag gesperrt werden, weil die Kapazität erschöpft war. Zusammenrücken ergibt also Sinn: «Man füllt die Autos, lernt neue Leute kennen und macht eine gute Tat», zitiert die Pendlerzeitung eine begeisterte Anwohnerin: «Die Kinder schauen nun immer, ob jemand auf dem Bänkli sitzt, den wir mitnehmen können.»

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