Gott: John Lennon, Tori Amos und Prince besingen ihn, für Faithless ist er ein DJ, für Eminem ein Rapper, bei Metallica irrt er, Bob Dylan weiss ihn auf seiner Seite, Coldplay bringt er zum Lächeln, Tom Waits träumt vom «Chocolate Jesus» und bei Nick Cave and The Bad Seeds wird er zum «Wild God». Lieder über Gott haben Dauerkonjunktur.
Frank Mathwig
Von den biblischen Psalmen, altkirchlichen Antiphonen, gregorianischen Chorälen und mittelalterlichen Madrigalen bis hin zur Vielfalt der neuzeitlichen und modernen Kirchenmusik begegnet der Gesang als Medium des Gebets, der Klage, Liebe, des Trosts, Lobs und Danks, um den Glauben zu bekennen, auszudrücken und zu verkündigen. Dahinter stehen nicht zuletzt die Erfahrungen von existenziellen Situationen, in denen die Sprache verstummt und nur der Gesang bleibt. Das gilt nicht allein aus emotionaler, sondern auch aus neurophysiologischer Sicht.
Lieder über Gott werden nicht nur in Kathedralen gesungen. Ob es in der Musik diesseits und jenseits der Kirchenmauern um die gleiche Sache geht, ist eine schwierige und problematische Frage. Denn worum geht es bei dieser «Sache» und wie können Kirchen, die an Bedeutung verlieren, und eine Popkultur, die mit quasi religiösem Nimbus die Massen bewegt, das «Gleiche» wollen? Fest steht: Die eine Seite schafft, was der anderen Seite früher viel effizienter gelang und beide beziehen sich auf Gott, Glaube, Transzendenz und Spiritualität. Eher zwischen den Stühlen bewegt sich der australische Musiker, Sänger, Expunk, Songrwriter, Bandleader, Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmkomponist Nick Cave. Er ist ein profunder Bibelkenner («I am a King James guy»), der im Laufe seiner Karriere vom Alt- zum Neutestamentler mutierte, eine Einleitung ins Markusevangelium verfasste, den umfangreichen Interviewband «Glaube, Hoffnung und Gemetzel» publizierte und dessen Blog «Red Hand Files» manche kirchlichen Seelsorgeangebote blass aussehen lässt. Für viele Konzertkritiker und -kritikerinnen fallen bei seinen Auftritten die Grenzen zwischen Kulturevent und Gottesdienst.
Auf ihrem gerade erschienenen 18. Album «Wild God» hangeln sich Cave und die Bad Seeds an ihrem roten Gottes- und Transzendenzfaden weiter. Der Sound ist kräftiger, die Arrangements sind opulenter geworden. Aber die tragische Lebenszäsur durch den Unfalltod seines 15-jährigen Sohnes im Jahr 2015 macht aus dem souveränen Geschichtenerzähler Cave einen demütig ringenden, surrealistischen Poeten. Um Umkehr, Verwandlung, vielleicht sogar Bekehrung geht es im Album-Titel «Conversion»: «Ich fühlte wirklich nie wieder Schmerz! Nie wieder Schmerz!» Von diesem Zustand ist der «Wild God» im Titelsong weit entfernt. Ein wilder «alter, kranker Gott, der stirbt, weint und singt» fliegt durch seine Erinnerungen, die ihn gefangen halten, und durch die Menschen auf der Suche nach seinem Volk. Angesichts dessen, was er sieht, könnte er mit Walter Benjamins «Engel der Geschichte» unterwegs sein. Der Gott muss aufgemuntert werden: «O Herr, wenn du dich einsam fühlst und wenn du dich traurig fühlst / Und nicht weisst, was du tun sollst, / Hol deinen Geist herunter.» Was mit «Bring the spirit down» gemeint ist, bleibt offen: Soll Gott den Heiligen Geist auf die Erde bringen oder muss der eigene «spirit» zuerst vollständig «down» sein, damit eine Konversion stattfinden kann? Und um wessen «spirit» und «conversion» ginge es überhaupt, wer hilft da eigentlich wem auf die Beine? Der Song endet – offenbar, wenn auch nicht eindeutig – mit einem Subjektwechsel, der musikalisch durch ein gewaltiges Gospelchorfinale unterstrichen wird: «Ich bin ein wilder Gott, Baby, ich bin ein wilder Gott. / Hier gehen wir! Ja, hier gehen wir!» Cave äussert sich nur knapp zum Song: «Der Typ in diesem Lied ist im Grunde ein alter Mann, der […] nach jemandem sucht, der an ihn glaubt. Am Ende ruft er diese Essenz des Glaubens herab, und das ganze Lied explodiert.»
Der «alte Mann» ist der Gott, den die Religion daraus gemacht hat. Cave wettert in seiner Einleitung zum Markusevangelium, die Kirche habe «Christus seines kraftvollen, kreativen Schmerzes oder seines brodelnden Zorns» beraubt und seiner Menschlichkeit, die «uns aus der Banalität unseres Daseins erhebt». Die Kritik ist nicht originell, dafür seine der traditionellen christlichen und Kirchenmusik diametral entgegengesetzte «religious music». Seine Songs klingen, als kämen sie aus den Mündern der biblischen Schatten- und Gegengestalten: wie Lieder von dem ums goldene Kalb tanzenden Volk, der missbrauchten Hagar, dem verrückten Saul, dem von Gott verwetteten Hiob, dem reichen Jüngling, dem älteren Bruder des verlorenen Sohns, der verzweifelten Maria oder dem ungläubigen Thomas. Bei seinem Metropolen-Lazarus verschwindet die Freude über seine Totenauferweckung hinter dem Stress, was er mit dem zurückgegebenen Leben anfangen soll. Nach der Existenz Gottes und dem eigenen Glauben gefragt, antwortet der Musiker in den «Red Hand Files»: «Ich bin ein Gläubiger – sowohl an die Anwesenheit Gottes als auch an seine Abwesenheit. Ich glaube mehr an die Suche selbst als an das Ergebnis dieser Suche.» In seiner Vorlesung über den Love Song ergänzt er: «Doch letztendlich gibt es das Liebeslied, um mit Sprache die Stille zwischen uns und Gott zu füllen, um die Distanz zwischen dem Vergänglichen und dem Göttlichen zu verringern.»