Am 26. Juli wurde die Regierung von Niger gestürzt und Präsident Mohamed Bazoum als Geisel genommen. Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) stellte den Putschisten ein Ultimatum und droht mit einem Eingreifen. Die von Putschisten geführten Regierungen von Mali und Burkina Faso stellen sich dagegen. Das hat Folgen für ganz Afrika, denn die USA stehen klar hinter Bazoum.
Gilles Yabi
Am 20. August stellte der Hauptputschist und selbsternannte Staatschef von Niger, General Abdourahamane Tiani, in einer Fernsehansprache seinen Fahrplan vor: eine Übergangszeit von höchstens drei Jahren und ein umfassender nationaler Dialog. Ausserdem bekräftigte er, dass sich sein Land im Falle einer Militärintervention verteidigen würde. Dieser zweitjüngste Staatsstreich in Westafrika ist ein schwerer Schlag für Niger, die Sahelzone und Westafrika insgesamt. Die Junta hat Frankreich, das rund 1500 Soldaten in Niger stationiert hat, öffentlich beschuldigt, das Land destabilisieren zu wollen. Die Krise wird auch in Washington genau beobachtet, da die USA in dem Binnenstaat im Herzen der Sahelzone Militärbasen unterhalten und sich politisch engagieren.
Während Niger mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren am unteren Ende der globalen Entwicklungsindizes liegt, wird die strategische Bedeutung dieses riesigen Landes unterschätzt. Seine geografische Lage an der Kreuzung von Nord-, West- und Zentralafrika, seine Mineral- und Erdölvorkommen, sein Potenzial für die Entwicklung erneuerbarer Energien und sein starkes Bevölkerungswachstum erklären das scheinbar übergrosse Interesse mittlerer und grosser Mächte an der aktuellen Krise.
Mohamed Bazoum trat im April 2021 die Nachfolge von Mahamadou Issoufou als Präsident an. Dies war die erste Machtübergabe zwischen zwei Zivilisten seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960. Der Wahlprozess war von Kontroversen und Streitigkeiten zwischen den verschiedenen politischen Kräften geprägt, und auch die Ergebnisse waren umstritten. Bazoum, ein studierter Philosoph und seit drei Jahrzehnten eine bekannte politische Persönlichkeit, hatte unter Issoufou hohe Ministerämter inne.
Bazoum hat starke Überzeugungen, ist aber pragmatisch, wenn es um schwierige Fragen geht. Er schliesst den Dialog als Mittel nicht aus, um neben militärischen Massnahmen auch den Rückzug einiger Kämpfer aus bewaffneten Terrorgruppen zu erreichen. Und er hat auch nicht gezögert, heikle Themen anzusprechen, wie zum Beispiel Nigers Fruchtbarkeitsrate von 6,8 Geburten pro Frau – die höchste der Welt. Bazoum ging sogar so weit, die Auswirkungen der weit verbreiteten Polygamie in einem mehrheitlich muslimischen und sozial konservativen Land zu hinterfragen.
Bei seinem Amtsantritt sprach Bazoum über die Bildung von Mädchen und seine Entschlossenheit, massiv in das Humankapital zu investieren. Sowohl Bildungsindikatoren in Bezug auf den Zugang ebenso wie auf die Qualität des Lernens als auch Ernährungs- und Armutsindikatoren stellen Niger an das Ende der afrikanischen Länder. Eine seiner wichtigsten Verpflichtungen war der Bau von Internaten für Mädchen, damit diese sicher und ohne hohe Kosten für ihre Familien die Schule besuchen können.
Die Junta rechtfertigt den Staatsstreich mit einer schlechten Wirtschaftsführung und sich verschlechternden Sicherheitslage unter Bazoum. Vor dem Staatsstreich wurde mit einem Wachstum von 6,9 Prozent im Jahr 2023 und 12,5 Prozent im Jahr 2024 gerechnet. Doch selbst bei einem starken Wirtschaftswachstum würde es mehrere Jahre dauern, die wirtschaftliche und soziale Realität des Landes zu verändern. Das Pro-Kopf-Einkommen in Niger lag 2022 bei 533 Dollar. Die Lebensbedingungen vieler Menschen sind nach wie vor katastrophal. Die Situation in Niger ist eher auf die Art und Weise zurückzuführen, wie das Land in den vergangenen Jahrzehnten regiert wurde, als auf die Art und Weise, wie es regiert wird, seit Bazoum Präsident ist.
Die Demokratie in Niger ist, wie fast überall in der Region, in Gefahr. Die demokratische Praxis, die sich weitgehend auf die verfahrenstechnische Dimension der Wahlen und die Tricks des politischen Wettbewerbs beschränkt, hat nicht zu einer als effizient und gerecht empfundenen Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zum Wohle der Bevölkerung geführt. Unter Bazoum wurden die Praktiken zur Einschränkung des zivilen Raums und der Meinungsfreiheit, für die die Regierung Issoufou kritisiert worden war, fortgesetzt. Führende Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen und regierungskritische Journalisten wurden regelmässig verhaftet und häufig zu Haftstrafen verurteilt. Dies wurde in einem Bericht der Organisation Tournons la Page aus dem Jahr 2022 besonders gut dokumentiert.
Was die Sicherheit anbelangt, so ist Niger zwar nicht von Angriffen bewaffneter Gruppen verschont geblieben, hat sich aber deutlich besser gehalten als seine Nachbarländer Mali und Burkina Faso. Im Gegensatz zu seinen Nachbarn ist die nigrische Regierung in einem grossen Teil ihres Territoriums weiterhin präsent. Der wahrscheinlichste Grund für den Staatsstreich ist, dass bestimmte Armeeoffiziere ihre Position und ihren Einfluss auf die politische Macht behalten und jeden Versuch des zivilen Präsidenten, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen, verhindern wollten. Das Eingreifen des Militärs in die Politik hat in Niger Tradition, und auf der Liste der ehemaligen Präsidenten finden sich mehr Militärs als Zivilisten. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 gab es in Niger vier erfolgreiche Putsche und Dutzende von Putschversuchen – darunter einer zwei Tage vor Bazoums Amtsantritt, der den Wunsch innerhalb der Armee signalisierte, ihn an der Amtsübernahme zu hindern.
Im März besuchte US-Aussenminister Antony Blinken Niger – der erste Besuch eines US-Spitzendiplomaten in der Geschichte des Landes und ein Beweis für dessen Rolle als wichtiger strategischer Partner für Washington. Niger ist der grösste Empfänger von Militärhilfe des State Department in Westafrika und der zweitgrösste in Afrika südlich der Sahara. Washington hat das Militär und die Sicherheitskräfte in Niamey ausgebildet und mit Ausrüstung versorgt, um sie bei der Bekämpfung von Terrorismus und grenzüberschreitender Kriminalität zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten haben 1100 Soldaten im Land und verfügen über wichtige Aufklärungsflugzeuge. Die diskreten Militärstützpunkte sind eine der effektivsten Möglichkeiten für die USA, ihre Macht zu demonstrieren und ihren Status als militärische Supermacht gegenüber China und Russland zu behaupten. Der Norden Nigers ist ein strategisch wichtiger Standort für die Überwachung Libyens und der gesamten Sahel-Sahara-Region und darüber hinaus. Am 10. August erklärte Biden, als Vereinigte Staaten wisse man die Entschlossenheit der ECOWAS zu schätzen und werde «alle Möglichkeiten für eine friedliche Lösung der Krise ausloten».
Fussnote:
Zusammenfassung einer Analyse der Carnegie-Stiftung für Frieden, Washington.