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Um Kindesmissbrauch zu verhindern, muss man sich mit den Tätern beschäftigen – und zwar bevor sie zu Tätern werden. Zu diesem Schluss kommen immer mehr Experten, weshalb sich auch vermehrt Hilfsangebote für Betroffene finden lassen. Allerdings: Die Gesellschaft tut sich noch schwer damit. 

von Florencia Figueroa

Er will einfach nicht enden, der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Ein Fall jagt den anderen. Und zuletzt musste gar der emeritierte Papst Benedikt XVI. zugeben, bezüglich seiner Stellungnahme zu dem Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising eine Falschaussage gemacht zu haben. Doch in einem Punkt hat die Kirche recht: Kindesmissbrauch ist kein spezielles Problem der Kirche. Die Ereignisse in dieser Institution haben das Thema bloss ins Rampenlicht gerückt. Das Phänomen an und für sich gibt es jedoch schon lange und betrifft die ganze Gesellschaft. Schliesslich weiss man derweil, dass etwa drei bis fünf Prozent der Männer im Laufe ihres Lebens sexuelle Fantasien bezüglich Kindern haben. Es handelt sich also nicht um Einzelfälle, sondern um ein Massenphänomen. Ja, die Betroffenen sind in der Minderheit, aber sie sind da. Und die Frage ist, wie die Gesellschaft mit ihnen umgehen will. 

Abscheu, Stigmatisierung und Intoleranz sind übliche Reaktionen. «Dabei wird oft vergessen, dass die Neigung als solche eigentlich noch gar keine Straftat ist», sagt die Psychologin Núria Iturbe Ferré. «Erst durch den Missbrauch wird sie zum Verbrechen.» Wie auf der Website von «Wir sind auch Menschen», eine Interessengemeinschaft von Betroffenen, zu erfahren ist, möchten die meisten jedoch nicht straffällig werden. Sie leben mit dieser Neigung, wohlwissend, dass sie sie niemals ausleben werden. 

Potenziellen Tätern helfen
Es gibt allerdings auch jene Personen, die sich nicht im Griff haben und deshalb zu Tätern werden können. Sie stellen ein Risiko für die Gesellschaft dar. Nur: Bisher hat sich niemand um sie gekümmert. Auch, weil der Konsens herrschte, ihnen sei gar nicht zu helfen. Ganz nach dem Leitsatz: einmal Kinderschänder, immer Kinderschänder. Erst vor einigen Jahrzehnten fand ein Umdenken statt. So gründete Professor Klaus M. Beier, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin, das Netzwerk «Kein Täter werden». Ziel ist es, sexuelle Übergriffe zu verhindern, indem man den Betroffenen dabei hilft, mit der Neigung zu leben. Sie müssen sie demnach akzeptieren und sie in ihr Leben so integrieren, dass sie keinem schadet. Das Netzwerk wurde 2005 ins Leben gerufen. Und es war weltweit das erste Mal, dass Experten potenzielle Täter therapeutisch behandelten. Im Normalfall setzt die Therapie nämlich erst dann an, wenn Betroffene schon straffällig geworden sind – sprich wenn es eigentlich zu spät ist. 

Weil das Konzept in Deutschland so gut funktionierte, übernahmen es andere Länder. Selbst in der Schweiz gibt es inzwischen Anlaufstellen für potenzielle Täter. In Spanien wurde die Hilfestelle PrevenSi 2019 gegründet. Sie richtet sich nicht nur an Betroffene, sondern auch an Menschen, die in ihrem Umfeld einen Betroffenen vermuten und wissen wollen, wie sie damit umgehen sollen. 

Mit der Neigung leben
«Es ist wichtig, solche Hilfestellen zu schaffen», sagt Núria Iturbe Ferré. Sie ist Spezialistin für forensische Psychologie und Kriminalpsychologie und arbeitet in der technischen Leitung von PrevenSi. «In der strafrechtlichen Verfolgung von Tätern hat sich nämlich herausgestellt, dass viele Betroffene – hätten sie im Vorfeld Hilfe bekommen – gar nicht erst zu Tätern geworden wären.» Allerdings sei diese Erkenntnis in der Gesellschaft noch nicht ganz angekommen, weshalb selbst die Hilfestellung zuweilen auf Ablehnung in der Öffentlichkeit stosse. Das wiederum habe zur Folge, dass sich Betroffene nicht trauen würden, sich zu ihrer Neigung zu bekennen, um sich helfen zu lassen. Dadurch würden sie erst recht zum Risiko. 

Doch wie bereits erwähnt: Es sind nur die wenigsten, die sich nicht im Griff haben. Aber weil die Neigung als solche nicht heilbar ist, bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig als zu lernen, mit ihr zu leben – auf eine Weise, die keinem schadet. Wie Lorena Magdaleno Manjarrés erklärt, sei das Thema sehr komplex, weshalb es auch keine einfachen Lösungen gebe. Die junge Frau hat sich auf forensische Psychologie und Psychologie im Strafvollzug spezialisiert und arbeitet als Psychologin für PrevenSi. Zusammen mit ihrer Kollegin Núria Iturbe Ferré gibt sie Auskunft über ihre Arbeit. Wie die Frauen betonen, würden sich die Betroffenen auf freiwilliger Basis melden. Es seien demnach Menschen, die sich helfen lassen wollen. 

 

 

Interview

Ist es die Mehrheit der Betroffenen, die eure Hilfe in Anspruch nehmen?
Lorena Magdaleno Manjarrés: Wir können nicht von Mehr- oder Minderheiten sprechen, da wir nicht genau wissen, wie viele Menschen betroffen sind. Klar ist nur, dass wir Anrufe erhalten. Ob es die Mehrheit der Betroffenen ist oder nicht, sei dahingestellt. 

Núria Iturbe Ferré: Bisweilen entscheiden Betroffene, die Hilfe nicht sofort in Anspruch zu nehmen, sondern erst nach einem gewissen Zeitraum. Der Grund: Sie durchlaufen einen Prozess, bis sie diesen Schritt wagen. Hinzu kommt, dass die Hilfestelle kaum bekannt ist. Auch weil viele Menschen nicht wissen, dass Betroffenen tatsächlich geholfen werden kann, sodass diese gar nicht zum Täter werden. Zwei Dinge sind also wichtig, um die Anzahl der Anrufe zu erhöhen. Erstens: der Gesellschaft klarmachen, dass die Neigung therapierbar ist. Und zweitens: die Hilfestellung mehr ins Bewusstsein rücken. 

Macht PrevenSi keine Werbung?
Núria Iturbe Ferré: Wir haben das in einem kleinen Rahmen getestet, indem wir PrevenSi auf Sozialen Medien beworben haben. Und es gab mehr Anrufe – auch von Personen, die sich über die Organisation informieren lassen wollten. 

Es besteht also eine gewisse Akzeptanz seitens der Öffentlichkeit für die Betroffenen?
Núria Iturbe Ferré: Ich glaube, immer mehr. Langsam, aber sicher begreift die Gesellschaft nämlich, dass es keine Einzelfälle sind. Es handelt sich vielmehr um ein Massenphänomen. Es ist ein Problem, das uns alle betrifft. Und wollen wir unsere Gesellschaft sicherer machen, packen wir das gemeinsam an – und überlassen das nicht einfach den Betroffenen alleine. Sicher, sie müssen auch Verantwortung übernehmen, indem sie sich helfen lassen. Allerdings können sie das nur, wenn die Gesellschaft einerseits akzeptiert, dass es Menschen mit dieser Neigung gibt, und andererseits die nötige Hilfe für diese Personen anbietet. Die Betroffenen sind schliesslich Teil des Problems. Man kann sie nicht einfach ausblenden, indem man nur Opfer-, aber keine Betroffenenhilfe leistet. 

Lorena Magdaleno Manjarrés: Es ist jedoch nach wie vor so, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit auf viel Ablehnung stösst. 

Wäre es hilfreich, sprächen Betroffene mit jemandem aus ihrem Umfeld darüber?
Lorena Magdaleno Manjarrés: Es kommt darauf an. Gerade weil das Thema so heikel ist, empfiehlt es sich, es nicht in jedem Fall zu gestehen. Man muss die Vor- und Nachteile abwägen. Ausserdem muss man sich darüber im Klaren sein, wie stabil das eigene Umfeld ist. Manchmal verlässt man sich auf eine Person, die einen dann fallen lässt. Das wiederum löst Frustrationen aus, die nicht gerade hilfreich sind. Wir geben diesbezüglich nie eine Empfehlung ab. Das muss jeder für sich selbst entscheiden – auch, weil nicht jede Person ein Umfeld hat, auf das sie sich verlassen kann. 

Wenn sich Betroffene aber helfen lassen möchten, verlieren sie dadurch ihre Sexualität?
Lorena Magdaleno Manjarrés: Nein, weil nur ein Teil der Betroffenen an einer sogenannten exklusiven Pädophilie leidet. Das bedeutet: Sie fühlen sich nicht nur zu Kindern oder Jugendlichen hingezogen, sondern auch zu Erwachsenen. 

Núria Iturbe Ferré: Mit anderen Worten: Sie können ihre Sexualität mit einer erwachsenen Person auf eine gesunde Art und Weise ausleben, ohne jemandem zu schaden. 

Es gibt doch diese lebensechten Puppen, die aussehen wie Kinder. Ist das eine annehmbare Lösung?
Núria Iturbe Ferré: Das ist die grosse Frage. Es gibt keine Studien darüber, ob Puppen als Ersatz dienen und somit verhindern, dass es zu Straftaten kommt. Oder ob sie die Fantasie anregen und erst recht dazu verführen, ein Verbrechen zu begehen. Solange wir keine abschliessende Antwort haben, bevorzugen wir es, von Puppen abzuraten. Wir wollen ja keine Straftaten begünstigen, sondern verhindern. 

Und falls jemand eine Straftat gesteht?
Lorena Magdaleno Manjarrés: Wir sind dazu da, um zu helfen. Die Neigung an sich ist keine Straftat. Wenn wir von einem Verbrechen erfahren, müssen wir das allerdings melden. Der Staat verpflichtet uns dazu. Das gilt übrigens für alle Straftaten, die Minderjährige betreffen. 

Núria Iturbe Ferré: Es kann sein, dass es im Ausland anders gehandhabt wird. Aber in Spanien ist das so – und wir haben bereits Betroffene melden müssen. 

Empfindet ihr dabei Mitleid mit den Betroffenen? Sie haben es sich nicht ausgesucht, so zu sein.
Lorena Magdaleno Manjarrés: Es geht uns nicht um Mitleid, sondern darum, professionelle Hilfe anzubieten, um möglichst viele Missbräuche zu verhindern. Das liegt in unserer Verantwortung als Psychotherapeuten. 

Worin besteht die Hilfe? Die Neigung verschwindet ja nicht einfach.
Núria Iturbe Ferré: Das stimmt. Wir versuchen auch gar nicht, die Menschen zu ändern. Wir bringen ihnen lediglich bei, mit ihrer Neigung zu leben, ohne dass sie zu Tätern werden. Wie Lorena Magdaleno Manjarrés bereits gesagt hat: Die Neigung an sich ist keine Straftat. Deshalb zeigen wir den Betroffenen, wie sie sie akzeptieren können, ohne jemandem zu schaden. 

Aber wie sieht diese Hilfe konkret aus?
Lorena Magdaleno Manjarrés: Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Wir haben keine allgemeingültige Lösung, die allen Betroffenen gleichermassen helfen kann. Die Therapie wird individuell auf den Einzelnen zugeschnitten mit dem Ziel, zu erkennen, wann die Neigung zur Gefahr wird. Anhand diverser Techniken lernen die Betroffenen, darauf zu reagieren, damit sie keine Straftaten begehen. 

Núria Iturbe Ferré: Es existiert eine Reihe von Strategien. Sie alle aufzuzählen würde jedoch den Rahmen sprengen.  

In der Vergangenheit war Pädophilie gesellschaftlich akzeptiert. Kann es sein, dass die Gesellschaft wieder dazu übergeht, sie zu legalisieren?
Núria Iturbe Ferré: Nein, denn das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist bereits in der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte», kurz AEMR, als Menschenrecht garantiert. Genauso wenig, wie unsere Gesellschaft plötzlich die Kinderarbeit gutheissen würde, würde sie die Pädophilie erlauben. Wahrlich, es hat lange gedauert, bis wir an diesem Punkt angelangt sind. Doch inzwischen, glaube ich, ist dieses Wertesystem genügend verankert, sodass es sich nicht so leicht wieder abschaffen lässt. 

Eckdaten 

Um es gleich vorwegzunehmen: Was den Kindesmissbrauch betrifft, hat sich die Gesellschaft – weil das Thema Abscheu auslöst – kaum mit den Betroffenen auseinandergesetzt. Der Fokus lag auf den Opfern. Das ist auch der Grund, weshalb man so gut wie nichts über die Betroffenen weiss. Hier einige Fakten: 

  • Es ist absolut unklar, wie viele Erwachsene sich tatsächlich sexuell von Kindern angezogen fühlen. Es wird geschätzt, dass zwischen drei und fünf Prozent der erwachsenen Männer irgendwann in ihrem Leben sexuelle Fantasien bezüglich Kindern haben. Von diesen drei bis fünf Prozent hat jedoch nur ein Prozent ein anhaltendes sexuelles Interesse an Kindern. Diese Menschen haben eine Störung namens Pädophilie. 
  • Wie und ob Frauen Kinder sexuell anziehend finden, wurde bisher nicht untersucht, weshalb es keine Zahlen gibt. Es kommt aber noch seltener vor als bei Männern. 
  • Wie der kanadische Sexualwissenschaftler und Psychologe Michael C. Seto 2012 herausgefunden hat, sind weniger als 50 Prozent der Täter, die Kinder tatsächlich sexuell missbrauchen, pädophil. Die meisten Taten werden also von Gelegenheitstätern ausgeführt. 
  • Man vermutet, dass das sexuelle Interesse an Kindern nicht angeboren ist, sondern sich entwickelt. Warum es entsteht, weiss man aber nicht.
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