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Die Gelegenheit scheint günstig für die Pflegeinitiative: Seit Jahren warnte der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner ungehört vor dem zunehmenden Mangel an Fachkräften. Dann zerrte die Pandemie das Problem ins Scheinwerferlicht: In der Krise waren viele Institutionen gezwungen, auf temporäre Arbeitskräfte zurückzugreifen.

Haben sich die Personalvermittler dabei eine goldene Nase verdient?   

von John Micelli

Der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) spricht von 11 000 Stellen, die derzeit nicht besetzt werden könnten. Ein kurzer Blick auf die Online-Portale der Stellenvermittler bestätigt den Notstand: Wer über einen Pflegeausbildungs-Abschluss auf Tertiärstufe – also das Diplom einer Höheren Fachschule oder einer Fachhochschule – oder auf Sekundarstufe II – die sogenannten Fachleute Gesundheit FaGe oder Betreuung FaBe – verfügt, kann schweizweit zwischen mehreren 1000 Stellenangeboten wählen. Und gemäss dem dritten Nationalen Versorgungsbericht zum Gesundheitspersonal, den das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan, die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) sowie die Nationale Dachorganisation der Arbeitswelt Gesundheit OdASanté gemeinsam erarbeitet haben, wird sich die Lage in den nächsten Jahren massiv verschärfen: Bis zum Ende des Jahrzehnts benötigt unser Land über 60 000 weitere Fachkräfte. Wenn die Schweiz nicht massiv mehr Leute ausbildet, wird sie diese Nachfrage aber nur zum Teil aus eigener Anstrengung befriedigen können.

Bereits heute verfügt rund ein Drittel der Beschäftigten im Pflegebereich über ein ausländisches Diplom. «Theoretisch würden die prognostizierten Ausbildungsabschlüsse bis 2029 ausreichen, um den Bedarf zu decken», schreibt die GDK in einer Medienmitteilung vom September dieses Jahres; die prognostizierte Lücke sei im Wesentlichen das Resultat von vorzeitigen Berufsaustritten. Denn vier von zehn Pflegenden verlassen den Beruf frühzeitigDas ist nicht erst seit der Corona-Krise so: Bereits vor der Pandemie stieg fast die Hälfte der ausgebildeten Pflegefachpersonen wieder aus dem Beruf aus. Die geradezu historischen Zustimmungswerte der Pflegeinitiative in Umfragen zeigen, dass breite Teile der Bevölkerung die Arbeitsbedingungen als Kern des Problems erkannt haben. Der indirekte Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament verspricht zwar eine Milliarde Franken von Bund und Kantonen, mit der in den nächsten acht Jahren eine Ausbildungsoffensive finanziert werden soll. Die von der Initiative geforderten Verbesserungen der Rahmenbedingungen und bei der Besoldung aber fanden bei der Landesregierung kein Gehör. 

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Personal fehlt überall
Der ausgetrocknete Markt zwingt Spitäler und Pflegeheime zur Kooperation mit spezialisierten Personalvermittlern. Das koste viel Geld, monierte die NZZ am Sonntag (NZZaS) in einem Artikel von Anfang Oktober. «Für erfolgreiche Vermittlungen erhalten die Temporärfirmen Provisionen, was die Anstellungen für die Auftraggeber teurer macht», schreibt Inlandredaktor Andreas Schmid und zitiert den Sprecher des Luzerner Kantonsspitals, Linus Estermann: «Der Einsatz von Fachkräften aus Temporärfirmen erhöht die Personalkosten.» «Personalvermittler verlangen oft enorm hohe Preise», beklagt sich Stefan Giger von der Gewerkschaft VPOD an derselben Stelle. 

Doch weil die Institutionen keine andere Wahl hätten, müssten sie die Konditionen akzeptieren. «Mit kurzfristigen Lösungen wie temporären Anstellungen werden nur die Symptome bekämpft, ohne das Problem grundsätzlich zu lösen», kritisiert Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des SBK, und fordert: «Die Spitäler und die anderen Gesundheitsinstitutionen müssen nun im Kampf um Personal bessere Anstellungsbedingungen bieten, sei es mehr Lohn oder mehr Freizeit. Es müssen für alle bessere Bedingungen geschaffen werden.» Denn temporär eingesetzte Fachkräfte würden teilweise zwischen 30 und 50 Prozent mehr verdienen als Festangestellte, das sorge für Missstimmung in den Betrieben. «Jede Pflegefachkraft mit Zusatzausbildung hat fünf Stellenangebote», gibt ein Branchenkenner in der NZZaS zu Protokoll, denn der grösste Mangel herrsche in der Intensiv-, Notfall- und Anästhesiepflege.

«Je spezialisiertere Ausbildungen gefragt sind, desto schwieriger ist es, die Fachkräfte zu finden», fügt die Sprecherin einer Personalvermittlungsfirma hinzu: «Mit einem Corona-Bonus oder anderen Anreizen wird versucht, die Fachleute anzulocken.» «Klar ist, dass Personalvermittler nicht die Lösung für den chronischen Personalmangel im Gesundheitswesen sind», erwidert Conny Bacher, Leiterin Marketing und Kommunikation des auf Gesundheitspersonal spezialisierten Personaldienstleisters Careanesth auf Medinside, denn die Nachfrage der Spitäler und Gesundheitsinstitutionen sei wesentlich höher als die Vermittler Personal in den Fachbereichen zur Verfügung hätten: «Wie in den Institutionen haben auch bei uns die Bewerber gefehlt.» Deshalb sei niemand mit der Vermittlung von spezialisiertem Gesundheitspersonal reich geworden, erklärt Bacher im Gespräch mit dem Fachportal: «Die Corona-Krise war für den klassischen Personalverleih ein Nullsummenspiel, eigentlich eher ein Minus-Geschäft.» 

Kostenunterschiede überschätzt 
Ein aktueller Kostenvergleich der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag von Careanesth widerlegt nun auch die These der NZZaS, der Beizug von temporär angestellten Fachkräften heize die Kostenspirale im Gesundheitswesen zusätzlich an. Zwar sind gemäss dem Bericht des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie im direkten Vergleich Festangestellte tatsächlich im Schnitt um 34 Prozent günstiger. Die beiden Autoren Tim Brand und Florian Liberatore aber mahnen an, die Gesamtsituation zu berücksichtigen: «Obwohl die Kosten für Temporärpersonal erwartungsgemäss höher sind als jene für Festangestellte, fällt der Kostenunterschied aus Vollkostensicht nicht mehr so stark ins Gewicht, wie es die direkten Kosten auf den ersten Blick erwarten lassen.» So müssten beispielsweise bei festangestellten Pflegenden Abzüge bei der produktiven Jahresarbeitszeit durch Ferien, Krankheit oder Zeitboni für Schichtarbeit und Überzeit berücksichtigt werden, die bei Temporärkräften nicht anfallen würden. Nicht zu unterschätzen sei auch der Zeitaufwand der Verantwortlichen, wenn sie kurzfristig Ersatz für Ausfälle organisieren müssten: «Die Analyse der Studiendaten hat ergeben, dass das leitende Personal rund 55 Minuten pro Ausfall suchen muss.» 

Häufig vernachlässigt würden auch Aufwände für Rekrutierung, Einstellung und Lohnadministration. Brand und Liberatore kommen deshalb zu dem Schluss, dass der tatsächliche Kostenunterschied zwischen temporärer Beschäftigung und Festanstellung elf Prozent betrage: «Insgesamt zeigt die Studie, dass Kostenargumente bei Überlegungen zum Einsatz von Temporärkräften eher von geringerer Bedeutung sind.» Denn den höheren Kosten müssten die Potenziale einer flexibleren Dienstplanung gegenübergestellt werden. Um Misstöne in gemischten Arbeitsteams aus Temporärkräften und Festangestellten zu vermeiden, empfehlen die Wissenschaftler, «auf eine gute Teamkultur sowie auf ein gut funktionierendes Qualitätsmanagement» zu achten. Vermittlerin Bacher gibt ausserdem zu bedenken, dass die Arbeitgeber auf die Entscheidung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich fest oder temporär anstellen zu lassen, nur geringen Einfluss hätten: «Die Entscheidung ist nicht Vermittler oder Spital, sondern das Arbeitsmodell.» 

Eine Festanstellung biete Sicherheit, die temporäre Beschäftigung Flexibilität: «Vor Covid hatten wir viele Mitarbeitende, die einige Monate arbeiteten und dann auf Reisen gingen. Und während die einen Mitarbeitenden die Abwechslung schätzen, weil sie nicht tagein tagaus im selben Team am selben Ort arbeiten möchten, wollen andere keine starren Dienstplanstrukturen.» Das Careanesth-Geschäftsleitungs-Mitglied aber sieht auch einen Silberstreifen am Horizont, weil während der Pandemie viele Fachpersonen zurückgekommen seien, die aus dem Gesundheitswesen ausgetreten waren: «Das ist eine gute Entwicklung angesichts des Personalmangels.» Die grosse Kunst aber wird nun darin bestehen – unabhängig vom Ausgang der Abstimmung vom 28. November –, mit verbesserten Arbeitsbedingungen die Fachkräfte im Gesundheitswesen zu halten.  

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