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Das geltende Sexualstrafrecht weist gravierende Lücken auf und wird deshalb revidiert. Bundesrat und Ständerat schlagen die «Nein-heisst-Nein»-Lösung vor, während Frauenorganisationen eine «Nur-Ja-heisst-Ja»-Lösung fordern. Konrad Hilpert, der zwölf Jahre als Moraltheologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München wirkte und an der Universität Luzern Ethik lehrte, ordnet im Interview die Unterschiede ein. 

von Stephan Leimgruber 

Konrad Hilpert, was ist strafbar in sexuellen Fragen und warum drängt sich eine Revision auf? 

Die Feststellung, dass das geltende Sexualstrafrecht gravierende Lücken aufweist, ist die Folge eines neuen Problembewusstseins. Ihm liegen vor allem drei Entwicklungen im allgemeinen Empfinden zugrunde: Zum einen hat sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert, und zwar in Richtung auf mehr Gleichheit. Zum anderen hat ein regelrechter Kampf stattgefunden um die Anerkennung einer Vielfalt von sexuellen Orientierungen (LGBTQI) und infolgedessen auch Beziehungsformen. Und zum Dritten ist, vor allem als Folge der starken Thematisierung des Missbrauchs von Kindern, aber auch zwischen Erwachsenen (Me too), die häufige Verquickung von sexuellen Handlungen und Macht bzw. Gewalt bewusster worden. Das sind übrigens alles Entwicklungen, die in grossen Teilen der Welt stattgefunden haben. 

 

Und da hilft ein angepasstes Strafrecht? 

Das Strafrecht ist sicher nicht gerade das nächstliegende und schon gar nicht das einzige Werkzeug, diesen drei Entwicklungen Resonanz zu verschaffen. Aber wenn sich das allgemeine Denken und Empfinden so massiv verändert haben, können sich auch Politik und Recht nicht der Forderung nach mehr Geschlechtergerechtigkeit, nach Selbstbestimmtheit und neuen Lebensformen sowie nach erhöhter Sensibilität für gewaltförmige Elemente in Beziehungen verweigern.  

In Bezug auf das Strafrecht geht es spezieller darum, das bestehende Recht unter der Perspektive dieser drei Entwicklungen kritisch durchzusehen und es gegebenenfalls zu ergänzen. Die praktizierte Sexualität und die Beziehungen selbst besser zu machen vermag das Strafrecht von sich aus nicht.  

 

Nun soll neu eine explizite Erklärung erfolgen, mit einer sexuellen Beziehung einverstanden zu sein.  

Der Gebrauch von Gewalt im Zusammenhang mit sexuellen Beziehungen war und ist ein No-Go. Die vorgeschlagene strafrechtliche Veränderung macht aber zusätzlich Ernst damit, dass es nicht nur manifeste Formen von Gewalt wie Vergewaltigung und die Androhung von physischem oder psychischem Zwang gibt, sondern auch sublime und verschleierte Formen, die als solche von aussen nicht sofort erkannt werden können, aber von der betroffenen Person selber oder auch erst im Lauf der Zeit als Zwang empfunden werden, wie Ausnutzung von Abhängigkeit, Blossstellung vor anderen oder Überredung. Sexuelle Interaktion ist ein Miteinander-Handeln, das auf beiden Seiten Freiheit voraussetzt. Dass man zu einem Handeln bereit ist, das so unmittelbar, intensiv, schutzlos und eben auch folgenreich erlebt wird wie das sexuelle, setzt freies Einverständnis voraus. Solches Einverständnis kann auf verschiedene Weise erteilt werden, durch Worte, durch Symbole oder auch wortlos-schweigend. Wichtig ist, dass es eindeutig und unmissverständlich vorhanden sein muss. Und deshalb ist die unmissverständlichste Art, es zu geben, die explizite Erklärung, und der ausdrückliche Widerspruch der deutlichste Ausdruck, dass das Einverständnis nicht vorhanden ist oder ab einem bestimmten Punkt zurückgezogen wurde. 

 

Die Neuerung des Sexualstrafrechts erweckt den Eindruck, dass zwei sich kennenlernen und schwups einverstanden sind mit Sex.  

Ich darf noch einmal darauf verweisen, dass das Recht im Allgemeinen und das Strafrecht im Besonderen in Bezug auf das Ziel «glückende Beziehung» und «erfüllende Sexualität» ein sehr beschränktes Instrument sind. Es kann lediglich bestimmte Fehlformen unter die Androhung von Sanktionen stellen und so im Einzelfall und gesellschaftlich-generell zu verhindern versuchen. Aber es kann die notwendige innere Zustimmung, die es anhand des Kriteriums explizites «Ja» schützen möchte, nicht hervorbringen und auch nicht stärken. Liebe und Gemeinschaft sind ebenso wie Selbstbestimmtheit nicht das Ergebnis oder die Folge der rechtlichen Gestaltung dieses Bereichs, sondern die Realitäten, die durch das Recht geschützt werden sollen, wenigstens aber nicht der Leichtfertigkeit und Gewalttätigkeit preisgegeben und verunmöglicht oder zerstört werden sollen. 

 

Gibt es einen Unterschied zwischen sexueller Belästigung und Übergriffigkeit? 

In gesellschaftlichen Alltags-Debatten hängen sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffigkeit eng zusammen und gehen häufig ineinander über. Eine trennscharfe Unterscheidung ist erst eine Sache des Rechts, das definitorisch zwischen zwei verschiedenen Straftatbeständen unterscheiden möchte. Dann ist sexuelle Belästigung der weitere Begriff und kann jede Form von sexualisierter, das heisst körper- und geschlechtsbezogener unerwünschter Annäherung bezeichnen, also körperliche Berührung, Ausnutzung von Macht- und Abhängigkeitsposition, Ungleichbehandlung, Einschüchterung, Beleidigung, Demütigung sowie Bemerkungen und Kommentare, die beschämend wirken, ebenso anzügliche Blicke. Mit Übergriffen sind hingegen unnötige körperliche Berührungen und sexuelle Handlungen gemeint, die eben nicht im Verbalen und Symbolischen verbleiben, sondern auch physische Gestalt annehmen.  

 

Was ist der Unterschied zwischen der Lösung «Ein Nein ist ein Nein» und «Ein Ja ist ein Ja»? 

Es ist eine zigfach gemachte Erfahrung, dass das, was jemand subjektiv als belästigend empfindet, präziser, rascher und entschiedener formuliert werden kann als das, was dieselbe Person als für sich gewünscht oder auch nur akzeptierbar bezeichnen kann. «Einverständnis» ist im Spektrum der möglichen sexuellen Handlungen und Ausdrucksgestalten ein extrem unscharfes und schwankendes Kriterium, weil die Dynamik des konkreten sexuellen Verhaltens recht offen ist. Während ein Nein stets eine konkret sichtbare Grenze meint, gilt ein Ja einem ganzen Möglichkeitsraum, der mit Fantasien, Träumen und mit gesehenen, pornografischen Bildern ausgefüllt werden kann. Zwischen vertrauten Partnern ist dieser Möglichkeitsraum durch Absprachen, lange Kenntnis des anderen oder auch durch eingespielte Routinen de facto begrenzt; zwischen unvertrauten Personen muss er jederzeit durch ein Bis-hierhin-und-nicht-Weiter» beschränkt werden können. Das einmal gegebene Einverständnis ist nie einfach ein Freifahrschein für alles, was einer der Partner gerade machen möchte.  

 

Kein Nein und kein Ja bietet somit Raum für viele Missverständnisse. 

Dort, wo nicht Nein gesagt wird, aber auch nicht ausdrücklich Ja, wo also sexuelle Handlungen schweigend hingenommen, geschehen gelassen oder vielleicht auch widerstandslos erlitten werden, können unsensible Partner, in zweiter Linie aber auch Polizisten und Richter, die einen zur Anzeige gebrachten Übergriff untersuchen und gewichten müssen, solches Schweigen als verklausulierte Zustimmung interpretieren. Das, obschon der oder die Betroffene das Handeln als Verführung, als Preis für die eigene Unerfahrenheit oder als vermeintliches Gefühl, das sei eben «normal», erfahren hat und erst nach längerer Reflexion eindeutig als Zufügung von Gewalt realisieren konnte. Ich glaube nicht, dass sich der Grundsatz, dass sexuelle Handlungen nur dann legitim sind, wenn alle Beteiligten explizit ihr Ja gegeben haben, rechtlich streng durchsetzen lässt, aber ethisch ist das sicher eine berechtigte Bedingung und ein unverzichtbarer Appell. Als Prinzip gesetzlich verbindlich gemacht, wie es jetzt vorgeschlagen wird und in vielen anderen europäischen Staaten bereits geltendes Recht ist, kann er sicher erzieherische und symbolische Wirkung entfalten, insofern er das Signal gibt, dass auch der schwächere Partner Rechte hat, und das, selbst wenn er nichts gesagt hat. Das Recht übernimmt hier, wenn man so will, die Funktion der Moral, weil diese in der Vergangenheit zu wenig auf diesen Punkt des Einverständnisses geachtet hat. 

 

Macht die Verlobungszeit heute noch Sinn? 

Eine Zeit des Sich-Kennenlernens und Sich-besser-Kennenlernens macht immer Sinn. Und so etwas ist auch nötig, damit die Partner einander und auch sich selber besser kennenlernen und in ihrer Beziehung wachsen können. Dieser Prozess des tieferen Kennenlernens und Sich-aufeinander-Einstellens und -Abstimmens ist heute vielleicht sogar notwendiger und anspruchsvoller, weil die Rollen der Partner viel weniger feststehen und konkret erst ausgehandelt werden müssen; und weil zudem viele der äusseren Stützen wie die festen Erwartungen der Familien und der Freunde und die Selbstverständlichkeit des ehelichen Zusammenlebens schwächer geworden sind. Nur werden viele junge Leute das wohl nicht mehr Verlobungszeit nennen und entsprechende Ritualisierungen mit Anzeigen, Verlobungsfeier und Enthaltung von sexueller Gemeinschaft als aus der Zeit gefallen oder seltsam empfinden. 

 

Und wie steht es mit den Werten Einzigkeit, Ausschliesslichkeit und der Treue, mit der Ehemoral? 

Ich halte diese Kriterien keineswegs für veraltet. Es trifft sicher zu, dass man allerorten von Seitensprüngen hört. Andererseits sehnen sich die meisten Menschen in ihren Beziehungen genau nach Einzigkeit, Ausschliesslichkeit und Treue. Selbst dann, wenn sie das im Einzelfall nicht schaffen oder der Partner dagegen handelt, leiden sie darunter. Diese Spannung und manchmal Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit muss man realistisch zur Kenntnis nehmen.  

 

Warum kommt es zu sogenannter Rachepornografie bei der Beendigung einer Beziehung? 

Damit ist gemeint, dass Ton- und vor allem Bildaufnahmen einer Person in intimen Situationen, die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, ohne und gegen den Willen der betroffenen Person an die Öffentlichkeit gebracht werden mit der Absicht, an ihr Rache zu üben. Wenn man Presseberichten Glauben schenken darf, kommt so etwas in den letzten Jahren immer häufiger vor, vor allem, um sich für die Beendigung einer Beziehung zu rächen oder ihr Fortbestehen zu erzwingen. Die Folgen für die blossgestellte Person sind meist furchtbar. Nacktheit bedeutet immer auch Schutzlosigkeit und Verletzbarkeit. In der Intimität ist das ein Privileg, von dem andere ausgeschlossen sind, das in Vertrauen eingehegt und vor pornografischer Verdinglichung und Austauschbarkeit geschützt ist. Dem wahllosen allgemeinen Zugriff und Anblick zur Verfügung gestellt, ist sie eine Form von Gewalt und Angriff auf die Eigensphäre einer Person, verbunden mit einer Demonstration des totalen Kontrollverlusts. Solche Ent-Intimisierung ist nichts anderes als eine schwere Verletzung der Menschenwürde. 

 

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