volodymyr hryshchenko
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Kaufen, sammeln, kleben, kaufen: Mit «Baumfreunden», «Lidlmals» und «farbenfrohem Farm-Knetspass» nehmen im Spätsommer die Sammelaktionen der Grossverteiler wieder einmal die Kinder ins Visier. Der Ausdruck dafür in der Marketing-Fachsprache: «Pester Power» – die «Macht des Quengelns».  

John Micelli  

Die «Mega-Öko-Gang» ist ein Team von Tieren mit Superkräften, «die Kindern helfen, die Natur zu schützen», erklärt das Marketing-Unternehmen Boost seine dreijährige, 2019 gestartete Kampagne für den luxemburgischen Detailhändler Cactus. Die Instrumente: ein Stickeralbum und eine App. Der Erfolg: eine massive Steigerung der Bekanntheit und die Stärkung eines nachhaltigen Image für die Ladenkette – rund 70 Prozent der Kundinnen und Kunden des Unternehmens hätten sich an der Sammelaktion beteiligt. Boost bezeichnet sich selbst als «international führender Fullservice-Anbieter für Kundenbindungsprogramme und Shopper Marketing» und betreut von seinem Hauptsitz in der Schweiz und acht Regionalbüros in Europa, Asien und Amerika Kunden in der ganzen Welt. Auch Migros und Coop haben sich schon von den Marketing-Experten Treue-Programme und Sammelaktionen kreieren lassen. Denn gemäss den Erkenntnissen einer repräsentativen Umfrage der Beratungsfirma Deloitte in der Schweiz von 2017 bindet sich eine Mehrheit der Kundinnen und Kunden heutzutage nicht mehr über Preis und Qualität an ein Unternehmen oder eine Marke – Loyalität bauen die Grossverteiler über «Emotionen und Erlebnis» auf. Deshalb lohnt es sich besonders, die Jüngsten anzusprechen: Nicht nur haben Kinder einen erstaunlich grossen Einfluss auf das Kaufverhalten ihrer Eltern. Laut dem dänischen Marketing-Experten und Buchautor Martin Lindstrom werden ausserdem Marken-Vorlieben schon im Alter von sieben Jahren und jünger verankert.  

Kinder an der Macht  
Lindstrom – der in seinem Buch «Brandwashed» auch den Begriff «Pester Power» geprägt hat – geht davon aus, dass drei Viertel der spontanen Käufe im Lebensmittelbereich von quengelnden Kindern ausgelöst würden. Ähnliche Zahlen ergab die Umfrage des Medienkonzerns Viacom «Little Big Influencers», für die 3600 Kinder und ihre Eltern in Belgien, Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, in Polen und Schweden befragt wurden: Selbst beim Autokauf ist bei einem Drittel der Familien auch die Meinung der Kinder gefragt. «Gelingt es, bei einem Kind den Wunsch nach einem Produkt auszulösen, bedeutet dies, der Wunsch wird in der ganzen Familie ausgelöst», fasst Martin Lindstrom zusammen und Viacom-Geschäftsführer Mark Specht bestätigt: «Unsere Studie belegt, dass die Kids die wahren Kaufentscheider in der Familie sind – das macht sie zu einer starken, einflussreichen Zielgruppe für Werbetreibende.» Die Gründe vermutet Specht in vertrauensvolleren Eltern-Kind-Beziehungen: «Zwei Drittel der befragten Eltern bestätigen, mit ihren Kindern ein deutlich engeres Verhältnis zu haben, als dies früher mit den eigenen Eltern der Fall war.» Und er verweist auf den hohen Informationsgrad des Nachwuchses: «Sechs- bis 13-Jährige initiieren häufig Gespräche über Produkte verschiedener Branchen im Familienkreis, 87 Prozent der Kinder äussern regelmässig Kaufwünsche bei ihren Eltern.»   

Geschenke zur Umsatzsteigerung 
Sternstunde dieser Marketingtaktik war die «Nano-Mania» der Migros im Jahr 2011: Kleine, kapselförmige Plastikfiguren mit aufgemalten Gesichtern und klingenden Namen als Geschenk bei einem Einkaufsbeitrag ab 20 Franken führten zu einem Sturm auf die Geschäfte des orangen Riesen – obwohl sie von Fachleuten als «Mist» und «Schnickschnack» bezeichnet wurden. «Mit solchen Aktionen wollen wir Kunden belohnen», liess damals der Projektleiter im Namen des Detailhändlers verlauten, «sie sollen spüren, dass sie in der Migros immer mehr fürs Geld bekommen.» Auch Konkurrent Coop betont, Kindern und ihren Eltern Freude bereiten zu wollen. Aber eigentlich geht es darum, sich gegenseitig Marktanteile streitig zu machen. Boost wirbt damit, dass Sammelaktionen den Einkaufsbeitrag pro Kunde ebenso wie die Frequenz der Einkäufe erhöhen und neue Kunden in die Läden bringen würden. «Wir können während der Dauer der Promotion den Gesamtumsatz unserer Kunden um ein bis sechs Prozent steigern», erklärt Boost-Geschäftsleiter Mario Schwegler – unabhängige Marktforschung würde das belegen. «Wie erfolgreich eine Kampagne wird, hängt davon ab, ob man auf das richtige Thema setzt.» Anderthalb Jahre würden seine Kreativteams zusammen mit Erziehungsfachleuten an einer Idee arbeiten, bevor man sie Detailhändlern in ganz Europa anbiete. Immer häufiger ist das «richtige Thema» Nachhaltigkeit oder Umweltschutz. Trotzdem stört sich die Stiftung Konsumentenschutz SKS an der Instrumentalisierung der Kinder für Geschäftszwecke: «Daran ändert sich auch nichts, wenn man bei den Spielen etwas lernen kann», ärgert sich die vormalige SKS-Präsidentin Prisca Birrer-Heimo im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. Aldi, Lidl, Migros und Coop: Ob im Herbst 2022 Hoftiere, Fussballerinnen oder Plüschbäume der grosse Renner werden, lässt sich derzeit noch nicht abschliessend beurteilen. Sicher aber ist: Auch im nächsten Jahr werden die Väter und Mütter wieder Marken sammeln – kein Grossverteiler wird freiwillig auf Marktanteile verzichten.  

 

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