volodymyr hryshchenko
  • Facebook
  • Twitter

Im Rahmen der Veranstaltung «Sarajevo – das europäische Jerusalem» setzen sich Studierende und Dozierende der Universität Luzern mit der religiösen und kulturellen Vielfalt des Balkans auseinander und stellen sich der Frage, was man aus der Geschichte für die Zukunft Westeuropas lernen kann. 

 

Martin Steiner

 

Am Anfang stand die Frage einer Studentin mit bosnischen Wurzeln: «Wie wäre es, wenn wir nicht nur nach Jerusalem, sondern auch nach Sarajevo fahren?» Schliesslich sei Sarajevo als europäisches Jerusalem bekannt. Ihre Aussage trifft zu, Sarajevo ist eine Stadt, in der Orient und Okzident aufeinandertreffen. Wie in Jerusalem leben in Sarajevo muslimische, christliche und jüdische Gläubige in einer Stadt, miteinander und nebeneinander.
Was mit diesem simplen Vorschlag begann, entwickelte sich rasch zu einem grösseren Projekt. Gemeinsam mit der Hochschulseelsorge des Campus Luzern wurde ein Konzept für ein Blockseminar mit Studienreise konzipiert. Innerhalb und ausserhalb der Universität Luzern fanden sich rasch Kooperationspartner und dank einer finanziellen Unterstützung des Verbands der römisch-katholischen Kirchengemeinden der Stadt Zürich wurde die Umsetzung möglich. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart des Balkans konnte beginnen.  

Die Beschäftigung mit der multiethnischen und -religiösen Geschichte des Balkans führt einen unweigerlich nach Sarajevo. Vor dem Hintergrund der Vergangenheit Bosnien-Herzegowinas sind sowohl Faktoren des Erfolgs als auch des Scheiterns von religiösem Zusammenleben erkennbar. Über Jahrhunderte hinweg lebten Religionsgemeinschaften weitgehend friedlich zusammen. Im 20. Jahrhundert löste das Attentat von Sarajevo auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, 1914 den Ersten Weltkrieg aus. Damit begann im Balkan eine Zeit von blutigen multiethnischen Konflikten, die bis zum Ende des Jahrhunderts andauerten. Mit der zunehmenden religiösen Pluralität in Westeuropa stellt sich heute bei uns die Frage, was wir anhand dieser Geschichte für unseren Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt lernen können.

So wie der tobende Krieg in der Ukraine führten die Jugoslawienkriege zu Migrations- und Fluchtbewegungen auf dem europäischen Kontinent. Nicht zuletzt auch in die Schweiz. Viele der Studierenden sind in den frühen 2000er-Jahren geboren und haben weder den Zerfall Jugoslawiens, die Balkankriege von 1991 bis 2001 noch das Massaker von Srebrenica (Juli 1995) erlebt oder wahrnehmen können. Mittlerweile lebt eine nennenswerte balkanstämmige Diaspora in der Schweiz. Viele davon flüchteten vor den politischen Konflikten und dem Krieg aus ihrer Heimat. Auf universitärer Ebene nimmt das Interesse an der Vergangenheitsbewältigung dieser Bevölkerungsgruppe zu. Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung bezieht viele Perspektiven mit ein und hebt das friedensfördernde Potenzial des Dialogs hervor.

 

Religiöse und kulturelle Vielfalt entdecken

Das Projekt Sarajevo behandelt Themen des interreligiösen und interkulturellen Lernens und Zusammenlebens. Theoretisches Wissen vermitteln vier Fachdozenten aus den Bereichen Judaistik, Islamische und Katholische Theologie sowie aus der Literaturwissenschaft. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung spielt auch die persönliche eine zentrale Rolle. So gilt es für die Studierenden, sich vorab der eigenen Positionalität bewusst zu werden. Damit gemeint ist, dass alle Studierenden sich mit ihren eigenen Positionen, Vorstellungen, Werten und ihrem Vorwissen in Bezug auf interreligiöse und interkulturelle Thematiken wie auch mit der Haltung zur Geschichte des Balkans auseinandersetzen.

Das Seminar tritt einer falschen Vereinfachung religiöser Konflikte entgegen. Einblicke in die Vielfalt interreligiösen Zusammenlebens werden ermöglicht und theologische Friedenspotenziale ausgelotet, denn Religionen können über die geteilten moralisch-ethischen Vorstellungen eine wichtige Funktion als Brückenbauerinnen einnehmen. Die Gefahren der politischen Instrumentalisierung von Religionen sollen dabei nicht verschwiegen werden. Interreligiöse Sensibilität ist für die Studierenden an der Theologischen Fakultät deshalb unabdingbar. Auch in einer säkularer werdenden Gesellschaft ist diese Kompetenz zentral für das gemeinsame Zusammenleben. Deswegen ist die Veranstaltung für die Studierenden aller Fakultäten geöffnet.

 

Lernen durch Begegnung

Auf die inhaltliche Wissensvermittlung an der Universität Luzern folgt eine Exkursion nach Sarajevo. Dabei stehen Begegnungen mit Personen im Vordergrund, die sich aus religiöser und ethischer Überzeugung für die Verständigung im Balkan einsetzen. Neben einem Empfang durch die Stadtpräsidentin von Sarajevo trifft die Studiengruppe mit einem jüdischen und katholischen Vertreter aus dem nationalen Interreligiösen Rat zusammen. Zudem ist ein Austausch mit den Studierenden der Medressa (islamisch-theologische Hochschule) vorgesehen. Eine besondere Begegnung folgt in Srebrenica mit einer Zeitzeugin, die Mitglied der «Mütter von Srebrenica» ist.

Während der Studienreise führen die Studierenden ein Reise- oder Videotagebuch, um ihre persönliche Entwicklung festzuhalten und darüber anschliessend zu reflektieren. Diese Form der Dokumentation dient der Selbstreflexion und soll bei einer öffentlichen Abschlussveranstaltung einen lebendigen Eindruck von der Studienreise bieten. Studierende und Dozierende berichten am 17. April von ihren Erkenntnissen an der Universität Zürich.

 

Das Projekt

Der Hauptorganisator des Projekts «Sarajevo – das europäische Jerusalem» ist der Autor Martin Steiner. Er studierte in Wien, Jerusalem, Fribourg und Luzern. Seine Doktorarbeit trägt den Titel «Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie». Er nimmt seit dem 1. Januar 2023 die Professurvertretung für Judaistik an der Theologischen Fakultät und an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern wahr und leitet als administrativer Geschäftsführer ad interim das dortige Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF).

 

Share This