volodymyr hryshchenko
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Aktuell werden rund 25 Prozent der Agrarprodukte in den städtischen Agglomerationen produziert – Tendenz steigend. Mit der Initiative Urban Food soll an die Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg angeschlossen werden, um die Ernährung in der Schweiz ökologischer und unabhängiger zu sichern.

Flavia Müller

Während Urban Gardening schon länger eines der liebsten Hobbys von Städtern mit Sehnsucht nach dem einfachen Landleben und Selbstversorgung ist, wird der Trend mit Urban Farming – wie die urbane Landwirtschaft modern genannt wird – multipliziert auch auf kommerzielle Nutzung, um Produkte für die Gesamtbevölkerung zu liefern.

Dabei ist die Idee alles andere als neu. Bereits im 19. Jahrhundert führte die geringe Haltbarkeit einiger Produkte dazu, in den Städten Viertel zu etablieren, in denen frisches Obst und Gemüse produziert wurden. Der deutsche Landbesitzer und Wirtschaftsgeograf Johann Heinrich von Thünen entwickelte 1842 ein Landnutzungsmodell (die sogenannten Thünenschen Ringe), das die Nachfrage der Stadtbevölkerung und die Transportkosten und    -möglichkeiten gewichtete. So baute man in unmittelbarer Nähe der Städte schnell verderbliche Lebensmittel an, besser transportfähige und haltbarere Ware hingegen weiter entfernt. In Paris gab es unzählige sogenannte Stadtgärten im Bezirk Le Marais (heute das 3. und 4. Arrondissement) mit rund 8500 selbstständigen Gärtnern. Auf rund 1400 Hektar, was einem Sechstel der Stadtfläche von Paris entspricht, bauten diese Obst und Gemüse an. Der jährliche Ertrag wird auf 100 000 Tonnen geschätzt. Ähnlich ging es weiter zu Kriegszeiten. Unsere Grossmütter können sich daran erinnern, wie sie in noch so kleinen Rabatten um die Häuser Kartoffeln und andere Lebensmittel anpflanzten – denn die Ware war teuer und knapp. Paris ist auch heute noch stark im Urban Farming. 2020 entstand auf dem Dach des Pavillons 6 des Parc des Expositions eine 14 000 Quadratmeter grosse urbane Farm, die in der Hochsaison bis zu einer Tonne Obst und Gemüse pro Tag produzieren soll.

 

Grüner Trend

Wer früher einen Schrebergarten besass, galt als spiessig oder aber als alternativ. Heute ist man damit modern und voll im Trend. Überall spriessen Gemeinschafts- und Generationengärten wie Bohnen aus der Erde. Zahlreiche Projekte führen bereits lange Wartelisten, so viele Interessierte gibt es. Und die Städte ziehen mit – denn städtische Lebensmittelsysteme können die Gesundheit der Gemeinschaft fördern und die Umweltverschmutzung minimieren.

Starke regionale Lebensmittel- und Agrarwirtschaften bieten Wachstumschancen und sichern die Zukunft der Landwirte. Befeuert wird der Trend von den aktuellen Klima-Prognosen oder dem Konflikt in der Ukraine und den damit entstandenen Engpässen bei gewissen Lebensmitteln. Deshalb hat die Schweiz in ihrer Ernährungsstrategie 2017–2024 festgelegt, die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Lebensmittelwirtschaft mit neuen Anbietern einzubinden, um der Bevölkerung den Zugang zu und die Wahl gesunder Lebensmittel zu erleichtern. Die Stadt Zürich hat sich in ihrer eigenen Ernährungsstrategie zur Einhaltung des Milan Urban Food Policy Pact (MUFPP) verpflichtet und bis 2030 hohe Ziele gesetzt, unter anderem: Food waste auf unter zehn Prozent senken, ein ausgewogenes Angebot schaffen, den Anteil nachhaltiger Produkte auf mindestens 50 Prozent steigern und insgesamt 30 Prozent weniger Klima- und Umweltbelastung verursachen.

In den ersten zwei Jahren der Umsetzung hat die Stadt Kennzahlen für das Monitoring von Food waste in städtischen Verpflegungsbetrieben etabliert, transparente Richtlinien für Kooperationen mit externen Partnern oder ein Vermarktungskonzept erarbeitet und ein Label für landwirtschaftliche Produkte aus der Stadt Zürich (Stadtpur) erschaffen. Weiter unterstützt die Stadt Zürich Projekte im Bereich Umweltbildung, wie die «GemüseAckerdemie», welche das Angebot der Schulgärten mit einem Programm für Konsum- und Ernährungsbildung kombiniert.

 

Aktuell werden rund 25 Prozent der Agrarprodukte in den städtischen Agglomerationen produziert – Tendenz steigend. Und die Landwirt/-innen sind dabei mit eingebunden, bei innovativen Projekten wie denen der solidarischen Landwirtschaft.

Dabei tun sich Konsument/-innen und Produzent/-innen als Verein oder Genossenschaft zusammen, um die Kultivierung von Lebensmitteln selbstbestimmt und selbstverwaltet zu ermöglichen. Die Mitglieder teilen sich alle Betriebsrisiken, -kosten und -aufgaben, aber natürlich vor allem die Ernte. Die Produzent/-innen müssen sich nicht mehr mit Vermarktung, Preisdruck oder Wachstumszwang herumschlagen, sondern können die nächste Saison planen, den Boden fruchtbar erhalten und bedürfnisorientiert wirtschaften. Eine solche Kooperative ist Plankton aus Basel, deren Ackerflächen mitten in der Stadt liegen – in Hinterhöfen von Wohngenossenschaften, Vorgärten von Einfamilienhäusern oder auf Rasenflächen von Altersheimen. Die Region Basel bietet besonders viele solcher Projekte. Der Gemeinschaftsgarten im Landhof war dabei einer der ersten dieser Art. Der Garten ist jederzeit offen für alle, an diversen Tagen gärtnert man zusammen mit Fachpersonen, tauscht sich aus und lernt dazu. Kosten gibt es keine, Spenden sind aber willkommen. Solche Gärten kennt man auch in anderen Städten. Besonders bekannt sind zum Beispiel die Prinzessinnengärten in Berlin. Seit 2009 befinden sich am Moritzplatz in Kreuzberg auf knapp 6000 Quadratmeter ehemaliger Brachfläche unzählige Hochbeete, offene Werkstätten, Stadtbienenvölker, ein Gartencafé, eine Lernküche zur Verarbeitung der lokalen Ernte und Raum für Märkte, Workshops und Vernetzungstreffen engagierter Menschen. 2020 kam der neue Standort mit rund 7,5 Hektar in Neukölln dazu und beide Projekte werden nun eigenständig und unabhängig voneinander geführt. Während in Basel direkt in der offenen Erde angebaut wird, sind die Prinzessinnengärten als mobiler Garten mit Holzbeeten aufgebaut. In den mobilen Beeten kann auch Gemüse auf versiegelten Oberflächen angebaut werden, um mögliche Verschmutzungen durch Schadstoffe im Boden zu vermeiden.

 

Stadtbauern

Landwirtschaftliche Produkte aus der Stadt gibt es zahlreich und sie finden immer mehr auch den Weg in die Gastronomie. So zum Beispiel das Projekt Stadtpilze in Basel. Die Firma kultiviert Pilze mitten in der Stadt – und zwar auf Kaffeesatz. Diesen erhält sie von diversen Büros und Privatpersonen, bei denen sie den Kaffeesatz abholt. Beliefert wird in erster Linie die Gastronomie, die fleissig bestellt. Privatpersonen können die Stadtpilze an diversen Märkten kaufen. Auch Imker nutzen vermehrt das Stadtgebiet. Die Bienen in der Stadt profitieren von Blütenpflanzen in Balkonkistchen und Vorgärten, von Lindenalleen und Stadtpärken und einem von Frühling bis Herbst vorhandenen Nektarangebot. Entsprechende Angebote gibt es in allen grösseren Städten.

Sogar Shrimps lassen sich heutzutage in Städten züchten. Swiss Shrimps züchtet innert sechs Monaten eigene Shrimps in einer geschlossenen Salzwasser-Kreislaufanlage von Postlarven zu ausgewachsenen Tieren. Als Energiequelle dient überschüssige Wärme der benachbarten Saline Riburg, aus der auch das Salz für die Meersalzmischung stammt. Auf Antibiotika wird konsequent verzichtet und geerntet wird erst, wenn auch bestellt wird.

 

Ein weiteres Projekt, das Landwirt/-innen und Stadtbewohner/-innen zusammenbringt, ist das Projekt Marktschwärmer. Es verbindet die Online-Direktvermarktung hochwertiger regionaler Lebensmittel mit der Schaffung lokaler Bauernmärkte, an denen sich Produzent/-innen und Konsument/-innen begegnen. Die Produzent/-innen bei Marktschwärmer sind Bauern, Bäckerinnen, Käsemacher, Gärtnerinnen, Tierhalter, Imkerinnen, Konditoren, Brauerinnen, Fischer, kleine Manufakturen und bäuerliche Familienbetriebe. Im Unterschied zum normalen Wochenmarkt wissen die Anbieter schon vorher, was sie mitbringen sollen. Das reduziert Food waste und die Anbieter können so besser kalkulieren. Das Projekt ist bereits erfolgreich in der Schweiz, Deutschland, Dänemark, Frankreich und Belgien.

 

Metropolen wie Shanghai haben derweil mehr Mühe, die Landwirtschaft in die Stadt zu holen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat China über 123 000 Quadratkilometer Ackerland durch die Verstädterung verloren und gemäss Schätzungen ist rund ein Sechstel der verbliebenen Ackerfläche – etwa 200 000 Quadratkilometer – von Bodenverschmutzung betroffen. Zusätzlich sind die Landpreise in solchen Städten astronomisch hoch. Aus diesem Grund setzen Grossstädte wie Shanghai auf die Vertikale. Im neu geplanten Stadtteil Sunqiao steht die Landwirtschaft im Vordergrund, mit modernem Anbau, Bildungsangeboten zum Thema urbane Landwirtschaft und Platz für Forschung. Der Anbau geht hier, wie die Wolkenkratzer, nach oben. Mit vertikalen Anbausystemen und Aqua-/Hydroponik-Anlagen findet der landwirtschaftliche Anbau auch in der Stadt seinen Platz. Bei solchen Indoor-Systemen wachsen die Gemüsepflanzen nicht in der Erde, sondern in einem Wasserkreislauf, der auch eine Fischzucht beinhaltet. Die Ausscheidungen der Fische dienen als Nährstoffe und Dünger für die Pflanzen. Die grösste Aquaponik-Anlage der Schweiz – rund 1000 Quadratmeter – steht auf dem Dach der Firma Ecco Jäger in Bad Ragaz.

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