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Neue Technologien, neue Medien und Formate, neue Konsumgewohnheiten – und eine neue Generation: Die «Digital Natives» werden erwachsen. Wie nutzen Jugendliche und junge Erwachsene diese nie dagewesenen Möglichkeiten für umfassende Information und Teilhabe an gesellschaftlichen Diskussionen und Entscheidungen? Hat der klassische Journalismus ausgedient? Sind Print-Produkte obsolet geworden? In unserer Monatsserie gibt es Antworten auf diese und weitere Fragen: Wir beginnen mit aktuellen Zahlen zur Mediennutzung junger Menschen, die im Rahmen des Projekts «UseTheNews» erhoben wurden.

von John Micelli

Einst war der Blick die auflagenstärkste Zeitung der Schweiz. 380 000 Exemplare des Boulevardblatts wurden im Jahr 1986 gedruckt. Ab 2007 aber ging es steil bergab, 2021 betrug die Auflage noch rund 90 000. Im Internet dagegen scheint der Höhenflug des Produkts aus dem Medienhaus Ringier eigenen Angaben zufolge nicht zu bremsen zu sein: Seit 2020 verzeichnet das Nachrichtenportal Blick.ch über eine Million Besuche täglich. Die Gratiszeitung 20 Minuten von Konkurrentin Tamedia rühmt sich, jeden Tag insgesamt gut drei Millionen Leserinnen und Leser zu erreichen – bei einer Auflage der gedruckten Version von gut 300 000. Diese Zahlen korrelieren mit regelmässig wiederkehrenden Schreckensmeldungen, dass die Jugend die Lust am Lesen verloren habe: «Rund ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreicht nicht das Mindestniveau in der Lesekompetenz, das wichtig für ein selbstbestimmtes Leben und für die Teilhabe an der Gesellschaft ist», warnte vor Jahresfrist das Nachrichtenmagazin Spiegel. Und der Ergebnisbericht 2020 der seit 2010 zweijährlich im Rahmen der JAMES-Studie (Jugend/Aktivitäten/Medien-Erhebung Schweiz) von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchgeführten Befragung schlussfolgert: «Kuratierte Informationsangebote wie Tageszeitungen, Zeitschriften, aber auch TV und Radio haben bei Jugendlichen über die letzten zehn Jahre zunehmend an Bedeutung verloren.»  

Der Schein trügt 
Die Tatsache, dass die Zeit, die Heranwachsende an Handy und Smartphone verbringen, stark zugenommen hat, interpretieren die Autorinnen und Autoren des Studienberichts als «Abnahme der Leseorientierung». Dass fast 90 Prozent der Jugendlichen täglich online sind, lässt sie vermuten, «dass Jugendliche weniger stark zwischen unterhaltungs- und informationsbezogener Mediennutzung unterscheiden». Denn: «Neue Medien wie soziale Netzwerke und Videoportale decken beide Bedürfnisse ab. Jugendliche suchen möglicherweise weniger gezielt nach Informationen und Nachrichten, sondern stossen bei der Nutzung von Online-Plattformen eher zufällig auf entsprechende Inhalte.» Eine Übersichtsarbeit des Leibniz-Instituts für Medienforschung und des Hans-Bredow-Instituts (HBI) allerdings mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation: Klassische Nutzungsstudien, die sich darauf beschränken würden, die an verschiedenen Geräten und auf unterschiedlichen Plattformen verbrachten Zeiten zu erfassen, könnten den neuen Realitäten nicht gerecht werden: «Eine einfache Einteilung in Radio, Zeitung, Fernsehen und Internet ist heutzutage kaum mehr sinnvoll, da sich Kanäle und Akteure zunehmend ausdifferenzieren und eine über den Einzelfall hinausgehende Kategorisierung von Medienangeboten schnell an Grenzen gerät.» Autorin Leonie Wunderlich und Autor Sascha Hölig warnen ausserdem davor, Jugendliche und junge Erwachsene als homogene Kategorien zu betrachten: «Innerhalb dieser Altersgruppen sind die Interessen und das Mediennutzungsverhalten deutlich ungleichmässiger verteilt als innerhalb der erwachsenen Mediennutzenden, weshalb es irreführend wäre, Aussagen über die Gesamtheit der Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen zu formulieren.» 

Konsum und Kompetenz 
Um eine differenziertere Sicht auf das Thema bemüht sich seit 2020 das Projekt #UseTheNews. Das Netzwerk der von der Deutschen Presse-Agentur (DPA) initiierten und zusammen mit zahlreichen öffentlichen und privaten Partnern – Bildungsinstitutionen und Medienhäuser – aufgebauten Plattform für Nachrichtennutzung und Nachrichtenkompetenz im digitalen Zeitalter reicht seit Mai dieses Jahres bis in die Niederlande, nach Österreich und in die Schweiz, wo sich die nationale Nachrichtenagentur Keystone-SDA angeschlossen hat.  #UseTheNews richtet sich an Journalistinnen und Journalisten auf der Suche nach passenden Medienformaten für die Generation Z, an Lehrerinnen und Lehrer, die wissen wollen, wie Medienkompetenz im Unterricht vermittelt werden kann – aber auch direkt an junge Menschen, die als «Representatives» nach ihrer Meinung gefragt werden oder als «Co-Creators» konkrete Projekte mitgestalten. Unter dem Dach von #UseTheNews und unter demselben Namen hat das HBI im vergangenen Jahr auch die Resultate der bisher umfassendsten Studie «zur Nachrichtenkompetenz Jugendlicher und junger Erwachsener in der digitalen Medienwelt» veröffentlicht, für die neben Wunderlich und Hölig der vormalige Instituts-Direktor Uwe Hasebrink verantwortlich zeichnet. Im Fokus standen folgende Leitfragen: Welche unterschiedlichen Muster oder Typen der Nachrichtenkompetenz lassen sich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachten? Welchen Unterschied macht es, wo und wie sich Menschen informieren? Erhellt werden sollte insbesondere das Zusammenspiel zwischen Nachrichteninteresse, Nachrichtennutzung, Meinungsbildung und Informiertheit, unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung von verschiedenen journalistischen und nicht journalistischen Nachrichtenangeboten in diesem Zusammenspiel. Überprüft wurde die Selbsteinschätzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anhand von Wissensfragen aus den Themenfeldern Demokratie und Politik, Journalismus und Medien sowie aktuelle Ereignisse.  

Journalismus in der Pflicht 
Zwei Aussagen bezeichnen Hasebrink, Wunderlich und Hölig als «Kernergebnisse» ihrer Studie, die auf die Gesamtheit der befragten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren zutreffen würden: So seien journalistische Angebote tatsächlich nur noch eine von vielen genutzten Informationsquellen. Oft fehle den jungen Menschen bei journalistischen Nachrichten der Bezug zum eigenen Alltag. Rund die Hälfte der Befragten halte es ausserdem nicht für wichtig, sich über Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten – würden sie es trotzdem tun, sei der am häufigsten angegebene Grund, um an Gesprächen und Diskussionen im Freundes- und Familienkreis teilnehmen zu können. Darüber hinaus aber hat das Forschungs-Trio bei den Jugendlichen (14 bis 17 Jahre alt) und den jungen Erwachsenen (zwischen 18 und 24) vier verschiedene Typen ausfindig gemacht mit spezifischen Ausprägungen von Interesse, Nutzung, zugeschriebener Meinungsbildungsrelevanz und Informiertheit (Details entnehmen Sie bitte dem Kasten auf Seite XX). Als gegeben betrachten es die Autoren und die Autorin, dass «eine funktionierende 

Demokratie auf gut informierte Bürgerinnen und Bürger und eine freie individuelle Meinungsbildung angewiesen ist» – und dem Journalismus dabei auch in Zukunft eine wesentliche Rolle zukomme. Als Fazit ihrer Arbeit haben sie deshalb verschiedene «Handlungspotenziale» identifiziert: In der Bildungspolitik erscheine es ratsam, «die Alltagsrelevanz nachrichtlicher Informationen zu verdeutlichen und Anschlussmöglichkeiten herauszuarbeiten». Zudem sei es aufgrund des auffälligen Befunds, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die der Meinung seien, sie könnten politisch etwas erreichen, es als wichtiger erachten, gut informiert zu sein, als zweckmässig zu bewerten, «die bestehenden Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Gesellschaft noch besser zu verdeutlichen». «Einem besseren Verständnis grundlegender Funktionen des Journalismus in einer Demokratie und der Strukturen des Mediensystems» sollte ausserdem im Rahmen der schulischen Ausbildung «mehr Aufmerksamkeit zukommen».   

Den Anbietern journalistischer Inhalte dagegen empfehlen die Medienfachleute, aufzuzeigen, «dass sie aufgrund ihrer Kompetenzen und Arbeitsweisen besser als andere Informationsanbieter in der Lage sind, relevante Informationen zu liefern». Insbesondere auf den sozialen Medien, wo journalistische Nachrichteninhalte zwar eine vergleichsweise geringe Rolle spielen würden, wo aber auch häufig zufällige Kontakte mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen entstehen könnten, müsse der Mehrwert, der Journalismus liefern könne, verdeutlicht werden. Und dieser Mehrwert entstehe durch Transparenz und hohe Qualitätsstandards, nehmen die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler die journalistischen Akteure in die Pflicht: «Nur durch solides Handwerk sowie verlässliche und tiefgründige Inhalte aus verschiedenen Perspektiven kann es gelingen, sich von nicht journalistischen und meinungsstarken Akteuren abzugrenzen und einen überzeugenden Mehrwert zu schaffen, für den man im Zweifel auch bereit ist, Geld auszugeben.» 

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