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Während der Pandemie kam der Kuss eindeutig zu kurz. Jetzt gilt es, seine unterschiedlichsten Varianten neu zu entdecken. Denn: Wie man küsst, sagt viel darüber aus, wie man ist.

von Anton Ladner

Zur freudigen Begrüssung, als Geste der Zärtlichkeit, zum Trost oder in der feurigen Leidenschaft: Der Kuss hat viele Formen und wohl noch viel mehr Botschaften. Seit gut einem Jahr kam er überall zu kurz. Die COVID-19-Pandemie setzte Umgangsformen, Gesten, Ritualen ein Ende. Der Kuss fand, wenn überhaupt, nur noch im intimsten Rahmen im gleichen Haushalt statt.

Denn er braucht den Mund und der wurde durch die Pandemie zur akuten Gefahrenquelle erklärt. Der Kulturwissenschaftler und Anthropologe Claude Lévi-Strauss beschrieb den Kuss als fluktuierend, weil er je nach Zeit und Ort ganz verschiedene Bedeutungen haben könne.

Elisabetta Moro und Marino Niola sind in ihrem soeben in Italien erschienenen Buch «Baciarsi» (sich küssen, Enaudi) diesem Phänomen nachgegangen. «Dieses Schmatzen der Lippen ist ein Beispiel für die Zweideutigkeit und zugleich für die Notwendigkeit der Körperlichkeit, die die Grundlage menschlicher Geselligkeit ist», schreiben sie.

Der Mund-Wange-Kontakt oder die Vereinigung von Mund und Mund umklammert die Menschheit. Im Mittelalter war der Kuss verboten und verpönt, aber auch damals wusste wohl jeder, wie es war zu küssen.

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90 Prozent der Menschheit küssen
Laut Sexualforschung küssen heute – wenn keine Pandemie herrscht – 90 Prozent der Menschen. Sigmund Freud sah im Küssen einen Instinkt, der mit dem Bedürfnis eines Neugeborenen, von der Mutter gestillt zu werden, angelegt sei. Ein Verlangen, das den Menschen, so Freud, nie mehr verlasse. Der britische Zoologe Desmond Morris leitete später den Kuss von der Praxis der menschlichen Vorfahren ab, sich von Mund zu Mund zu füttern. So pressen Affeneltern ihren Kleinen die Lippen auf den Mund, wenn es an Futter mangelt. Nach Desmond Morris assoziiert man den Kuss weiterhin mit der Vorstellung von Geborgenheit und Liebe aufgrund der frühkindlichen Erfahrung an der Mutterbrust.

Küssen stammt aus dem Griechischen, baskaino, was flüstern, murmeln, verzaubern, faszinieren bedeutet. Beim Küssen gibt man immer etwas von sich weiter, was einen aber selber bereichert. Küsse lassen vor allem bei Männern das Glückshormon Oxytocin steigen und das Stresshormon Cortisol absinken. Für Moro und Niola ist der Kuss «die Unisexgeste aller Liebesgesten». Nur: Es gibt den Kuss der Vergebung, den Kuss des Verrats, den Kuss des Hasses, den Kuss der Demut, den Kuss des Begehrens – ein Kuss ist deshalb nie ein Kuss allein.

Erotische Elemente
Die ersten Christen küssten sich zur Begrüssung. Paulus schrieb an die Korinther: «Grüsst Euch untereinander mit dem heiligen Kuss.» Die Frühchristen küssten sich dann vor dem Abendmahl auf den Mund, ein Friedenskuss als Zeichen der vollständigen Versöhnung.

Jahrhunderte später lauerte für Lutheraner und Reformierte im Kuss das erotische Element, was Risiken und Gefahren beinhalte. Wiederum später wurde der Kuss zur politischen Botschaft an die Öffentlichkeit: Papst Wojtyla küsste den Boden, wenn er einem Land einen Besuch abstattete, und Leonid Breschnew presste seine Lippen auf jene von Erich Honecker als sozialistischen Bruderkuss. Entnommen wurde er vom Osterkuss der orthodoxen Kirche.

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