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Die dauerhaft gefrorenen Böden vor allem am nördlichen Polarkreis speichern mehr als eine Billion Tonnen Kohlenstoff. Doch mit dem Klimawandel tauen sie mehr und mehr auf. Ob dadurch grosse Mengen Treibhausgase freigesetzt werden, ist eine der wichtigen ungelösten Fragen der Klimaforschung.  

von Klaus Jacob

Eine eher karge Vegetation, nur ab und an kleine Baumgruppen, und immer wieder kleine und grosse Seen, teils verbunden durch natürliche Kanäle. Viele Permafrostgebiete präsentieren sich mit ganz eigenem Charme. Doch die Gewässer, so idyllisch sie anmuten, zeugen von einer tiefgreifenden Veränderung. Denn viele von ihnen sind erst entstanden, seit der Klimawandel zuvor dauerhaft gefrorenen Boden tauen lässt. Damit könnte sich auch der Kohlenstoffspeicher auflösen, den der Permafrostboden bildet. Grosse Mengen des Elements, die durch ganzjährigen Frost bislang gebunden waren, könnten bei steigenden Temperaturen in Form der Treibhausgase Methan und Kohlendioxid in die Atmosphäre entweichen und den Klimawandel zusätzlich anheizen – so eine Vermutung der Klimaforschung. Ob diese Befürchtung berechtigt ist, untersucht Mathias Göckede, Leiter einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena. 

Etwa ein Viertel der nördlichen Landmasse gilt als Permafrostgebiet. Dazu gehören fast ganz Grönland, grosse Teile Sibiriens, Nordkanadas und Alaskas. Ihren Gehalt an organischem Kohlenstoff beziffern Experten auf rund 1500 Milliarden Tonnen. Das genügt theoretisch, um die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre zu verdreifachen. Das Potenzial des hohen Nordens, die Erderwärmung zu verstärken, ist also enorm. Das bestätigt auch der Weltklimarat in seinem jüngsten Gutachten. Der tauende Permafrost spiele mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rolle für das Klima der nächsten Jahrhunderte, heisst es. Mehr noch: Überschreitet die Erwärmung einen kritischen Wert, könnte diese Region verstärkt auftauen, und es gäbe wegen des sich selbst verstärkenden Mechanismus kein Zurück mehr – das System könnte einen Kipppunkt überschreiten.  

Effekte sind deutlich Sichtbar
Doch wie schnell dieser Prozess abläuft und welche Mengen an Treibhausgasen dabei emittiert werden, ist bisher nicht geklärt. Es fehlt schlicht an Daten. Während Wetterdaten seit mehr als hundert Jahren aufgezeichnet werden, beschäftigt sich die Forschung noch nicht lange mit den Dauerfrostböden. Die Messreihen sind bisher nicht lang genug, um angesichts der natürlichen Wetterschwankungen einen verlässlichen Trend zeigen zu können. Im Winter schneit es mal viel, mal wenig, der Sommer ist mal extrem trocken, mal extrem warm, dann wieder sehr kalt. Und Corona hat die Forschung zusätzlich erschwert: Fast zwei Jahre waren alle Forschungsreisen gestrichen, sodass manche Datenreihe nun Lücken aufweist. 
 

Dass sich etwas ändert im hohen Norden, ist auch ohne Messungen erkennbar. Fundamente von Gebäuden sacken ab, weil der tauende Boden nicht mehr trägt. In Tscherski, Göckedes Forschungsstützpunkt, ist 2019 nach einem warmen, trockenen Sommer ein Haus eingestürzt. Danach fehlte von dem lang gestreckten Gebäude der Mittelteil. Und im Mai 2020 zerbrach in der Industriestadt Norilsk gar das Tanklager eines Heizkraftwerks. Mehr als 20000 Tonnen Diesel liefen aus und verursachten eine Umweltkatastrophe. Auch Böschungen rutschen ab, tiefe Krater und Seen entstehen. Dazu kommen vermehrt Brände, angefacht durch immer häufigere Gewitter, deren Blitze den Zündfunken liefern. «Bis vor wenigen Jahren noch gab es um Tscherski extrem selten Brände», sagt Göckede. In den letzten zwei Jahren wüteten nahe den Untersuchungsflächen seines Teams einige Flächenbrände – dies sogar in Überschwemmungsgebieten, die eigentlich feucht sein sollten. Dass mit dem Klimawandel Kadaver von Tieren der Eiszeit wie Mammuts oder Höhlenbären aus dem ewigen Eis zum Vorschein kommen und untersucht werden können, ist da ein schwacher Trost. 

Ob und, wenn ja, welche Mengen an zusätzlichen Treibhausgasen durch die Erwärmung der Permafrostgebiete freigesetzt werden, untersucht Göckede mit detaillierten Messungen. Dass dabei Methan und Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangen können, liegt auf der Hand. Dazu zunächst ein Blick in die Wälder des warmen Südens: In gemässigten Breiten oder in den Tropen nehmen Bäume Kohlendioxid aus der Luft auf und bauen es in Blätter, Äste und Stämme ein. Fallen die Blätter oder stürzt ein Baum um, zersetzen Mikroben die organische Substanz, sodass der Kohlenstoff wieder frei wird. Insgesamt sollte die Bilanz bei ausgewachsenen Wäldern und stabilem Klima also ausgeglichen sein. Im Permafrost gelten andere Regeln. Hier taut während des Sommers die obere Schicht des Bodens auf und gefriert im Winter erneut. Diese sogenannte Aktivschicht, die nicht zum Permafrost gehört, ist zwischen 40 Zentimeter und mehrere Meter dick. Darauf gedeiht zwar eine oft nur schüttere Vegetation, deren Rückstände werden aber kaum abgebaut. Die Ursache liegt nicht nur in den niedrigen Temperaturen, sondern auch in der Staunässe, die in arktischen Ökosystemen weit verbreitet ist. Über Jahrtausende konnte sich so Kohlenstoff – tiefgefroren – im Boden anreichern, manchmal bis zu einer Tiefe von mehreren hundert Metern. 

Steigen die durchschnittlichen Temperaturen nun an, wie seit einigen Jahrzehnten in der Arktis beobachtet, kann der Boden bis in grössere Tiefen auftauen. Die darunterliegenden Permafrostschichten werden destabilisiert, und Mikroben bauen den darin enthaltenen Kohlenstoff ab. Dabei produzieren sie Treibhausgase. In trockenen Systemen mit viel Sauerstoff im Boden erzeugt die Mikrobengemeinschaft vornehmlich Kohlendioxid. Ist das Ökosystem dagegen wassergetränkt, produzieren anaerobe Mikroorganismen Methan, das einen besonders starken Treibhauseffekt ausübt. Welche Mengen an Methan in die Atmosphäre gelangen, wird massgeblich beeinflussen, wie sehr der auftauende Permafrost den Klimawandel verstärkt. 

Gelungene Messungen
Den Gasaustausch zwischen Luft und Boden exakt zu messen ist allerdings eine Herausforderung. 20-mal pro Sekunde messen die Apparate die Konzentrationen von Methan, Kohlendioxid und Wasserdampf. Auch die Luftbewegungen werden aufgezeichnet. Die hohe Frequenz ist nötig, um die turbulenten Austauschprozesse in der bodennahen Atmosphäre zu erfassen. Nur so lässt sich ermitteln, welche Mengen an Kohlenstoff vom Boden und von der Vegetation aufgenommen oder abgegeben werden. Ein weiteres Problem bei den Forschungen ist die Inhomogenität der Permafrostgebiete. Kein Areal gleicht dem anderen – hier ein junger See, dort ein schütteres Krüppelwäldchen, hier ein Überschwemmungsgebiet, dort eine Abbruchkante. Eigentlich müsste man viele Versuchsreihen starten, um diese kleinräumige Zergliederung in den Griff zu bekommen. Allerdings gibt es eine Bodenform, die häufig vorkommt. Sie zeichnet sich durch zahlreiche Eiskeile aus, die den Boden wie ein Netzwerk durchziehen. Bei einer Erwärmung tauen diese Keile verstärkt auf, und der Boden kann an den betreffenden Stellen absacken. So entsteht aus einer vormals weitgehend homogenen, ebenen Tundrafläche eine Landschaft aus Gräben, in denen sich Wasser sammelt, und relativ trockenen Inseln dazwischen. Diese Eiskeil-Degradation ist ein Prozess, der in den kommenden Jahrzehnten im hohen Norden häufig zu erwarten ist. Um zu verstehen, wie sich dabei die Kohlenstoff-Flüsse verändern, haben die Max-Planck-Forschenden den Effekt künstlich erzeugt und ein Gebiet von rund 200 Metern Durchmesser mit einem Drainagegraben trockengelegt. Diese Versuchsfläche existiert nun seit etwa 17 Jahren. Nach einem ersten Experiment über vier Jahre und einer darauffolgenden mehrjährigen Unterbrechung misst und beobachtet Göckedes Team dort seit acht Jahren kontinuierlich, wie sich die Landschaft auf der künstlichen Insel verändert. Der Wandel ist deutlich sichtbar: Die Vegetation gedeiht, wächst in grössere Höhe. Es gibt nicht mehr nur Gras, sondern auch Büsche. 

Interessant sind natürlich vor allem die Emissionen von Treibhausgasen. «Die Ergebnisse haben uns überrascht», sagt Göckede. Da anaerobe Mikroben auf der weitgehend trockenen künstlichen Insel keinen geeigneten Lebensraum mehr fanden, gingen die Emissionen von Methan zurück – gegenüber einer ungestörten Referenzfläche halbierten sie sich etwa, wie die Messungen zeigten. Beim Kohlendioxid sieht es hingegen anders aus: Da der Bewuchs zunahm, sollte das Ökosystem eigentlich mehr Kohlenstoff aufnehmen. Doch insgesamt betrachtet, war das Gegenteil der Fall: Die Vegetation sog zwar tatsächlich mehr Kohlendioxid aus der Luft, doch insgesamt gab das Ökosystem CO2 ab. Der Grund dafür waren steigende Emissionen aus dem tauenden Permafrostboden – die zusätzliche Aufnahmekapazität der Vegetation konnte diese nicht wettmachen. 

Was die langfristige Entwicklung betrifft, ist Mathias Göckede eher pessimistisch. Der Effekt der spriessenden Vegetation sei nicht von Dauer, selbst wenn er einige Jahre oder Jahrzehnte anhalte. Denn irgendwann lasse sich der Pflanzenwuchs nicht weiter steigern. Büsche und Bäume können nicht in den Himmel wachsen. Voraussichtlich wird also der Beitrag der tauenden Böden – und damit die Emission von Kohlendioxid und Methan – steigen. 

 

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