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Der öffentliche Diskurs über die aktuelle Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen birgt eine gewisse Ironie. Vordergründig scheint es um eine Garantie zu gehen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Dabei ist seitens des Militärbündnisses gar keine Rede von einer Mitgliedschaft. Und auch in der Ukraine wird ein NATO-Beitritt mehrheitlich abgelehnt.

von Volodymyr Ishchenko

Die Ukraine spielt bei den gegenseitigen Drohungen und Verhandlungen über ihre Zukunft keine bloss untergeordnete Rolle. In der Berichterstattung kommt aber eine typisch koloniale Haltung zum Ausdruck. Ukrainerinnen und Ukrainer werden als homogene Gruppe dargestellt und die politische Vielfalt einer Nation von 40 Millionen Menschen wird ignoriert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb kürzlich auf Twitter: «Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine». Damit stellte er sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine offenbar im kleinen Kreis der Grossmächte bestimmen will. Das Problem ist aber nicht nur, dass hier «ohne die Ukraine», sondern dass «stellvertretend für» ganz unterschiedliche Ukrainer entschieden wird, als wären sie sich in allen kritischen Punkten einig.

Dieses strategische Vorgehen ergibt sich auch aus einer weit verbreiteten Interpretation der Euromaidan-Revolution. Demnach hätten sich die Ukrainer der unterschiedlichen Regionen, die im Zweiten Weltkrieg zu einem modernen Staat zusammengeschlossen wurden, erst durch die Revolution von 2014 wirklich zu einer bürgerlichen und inklusiven Nation vereint. Sie hätten demnach in einer «zivilisatorischen Wahl» für eine westliche geopolitische Ausrichtung votiert und würden diese nun gegen die russische Aggression verteidigen, die die Ukraine in ihre Einflusssphäre zurückholen wolle. Der anschliessende Krieg im Donbas wird primär als ein Krieg zwischen zwei Staaten dargestellt und nicht als eine direkte Fortsetzung des gewaltsamen inneren Konflikts, der in den letzten Tagen des Euromaidan noch vor der russischen Intervention begonnen hatte.

Der Euromaidan war nämlich keine gelungene Revolution. Er schuf keine nationale Einheit. Die Gruppen der Elite, die von den Entwicklungen ebenso profitierten wie die Ideologen, müssen diese Illusion jedoch für ihre innere und äussere Legitimation aufrechterhalten. Dafür setzen sie auf Zensur und Unterdrückung. Es gibt also ein Interesse daran, alternative Ansichten zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukraine als «unukrainisch» oder «anti-ukrainisch» darzustellen, obwohl viele (vielleicht sogar die meisten) Bürger sie teilen. Manche Ukrainer finden daher in der innenpolitischen und internationalen Öffentlichkeit immer weniger Gehör.

In totaler Abhängigkeit
Die Ukraine ist nicht bloss zu einem Spielball der Grossmächte geworden. Besonders demütigend ist, dass das Land für imperialistische Interessen herhalten muss, die sich als uneigennützig darstellen. Die hochtrabende Betonung der ukrainischen Souveränität steht im Kontrast zur Realität eines Staates, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion politisch, ökonomisch und militärisch noch nie so abhängig war wie heute. Es ist wichtig, die Vielfalt der Ukraine anzuerkennen und über die Interessen der Ukrainer zu sprechen, nicht nur, um den Konflikt kurzfristig zu deeskalieren, sondern auch, um eine nachhaltige Lösung für die Ukraine zu finden und Frieden in Europa zu schaffen.

Russland fordert unumstössliche Garantien, dass die Ukraine und andere Staaten der ehemaligen UdSSR nicht der NATO beitreten und die NATO deren Territorien nicht für ihre militärische Expansion nutzt. Für gewöhnlich erwidern Vertreter und Beobachter aus dem Westen, dass darüber nicht Russland, sondern die NATO und die Ukraine zu entscheiden hätten. Viele westliche Kommentatoren sind ganz versessen darauf, Putins Gedanken zu lesen: Wie würde er reagieren, wenn er mit einer Antwort auf seine Ultimaten nicht zufrieden ist? Dem stehen auf der anderen Seite Spekulationen entgegen, inwiefern der US-Präsident Joe Biden zu einem Abkommen mit Russland bereit ist. Was die Ukrainer davon halten, interessiert die wenigsten. Wollen die Ukrainer überhaupt in die NATO? Die Neutralität der Ukraine, die den Beitritt zu jeglichen Militärbündnissen ausschliesst, ist in den Gründungsurkunden des modernen ukrainischen Staats verankert, in der Unabhängigkeitserklärung (verabschiedet am 16. Juli 1990) und der Verfassung (28. Juni 1996). Die Ukraine darf also keinem militärischen Block beitreten. Im Dezember 2007, kurz vor dem berüchtigten NATO-Gipfel in Bukarest, auf dem beschlossen wurde, dass die Ukraine und Georgien «der NATO beitreten werden», sprachen sich weniger als 20 Prozent der ukrainischen Bürger für einen Beitritt aus. Die meisten wollten entweder ein militärisches Bündnis mit Russland eingehen oder die blockfreie Neutralität beibehalten.

Eine NATO-Mitgliedschaft forderte vor den turbulenten Ereignissen von 2014 nur eine kleine Minderheit. Nach Russlands Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbas befürworten etwa 40 Prozent einen NATO-Beitritt.

Zwei Faktoren waren für diesen Wandel in der öffentlichen Meinung massgeblich. Ukrainer, die zuvor skeptisch gewesen waren, sahen in der NATO-Mitgliedschaft nun einen Schutz gegen weitere russische Kriegshandlungen. Ebenso entscheidend war aber, dass die Umfragen die russlandfreundlichsten Ukrainer aus den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Territorien, die Krim und der Donbas, nicht mehr abbildeten. Millionen Ukrainer hatten dadurch in der Öffentlichkeit des Landes effektiv keine Stimme mehr.

Neutraler Weg angestrebt
Ein Militärbündnis mit Russland stiess in der übrigen Ukraine seit 2014 auf deutlich weniger Zuspruch. Die meisten ehemaligen Russlandbefürworter waren aber nicht auf einmal für die NATO, sondern sprachen sich gleichermassen gegen beide Seiten und für eine neutrale Ukraine aus. Angesichts des siebenjährigen militärischen Konflikts, der meist (fälschlich) als Krieg gegen Russland dargestellt wird, erstaunt die weitgehende Zurückhaltung der Ukrainer gegenüber der NATO.

Vor den Wahlen von 2019 drängte der damalige Präsident Petro Poroschenko auf eine Verfassungsänderung, um eine EU- und NATO-Mitgliedschaft zu ermöglichen. Damit konnte er die Schlappe gegen den jetzigen Präsidenten Selenskyj jedoch nicht verhindern. Die Befürwortung eines NATO-Beitritts schwankt je nach Region. Eine stabile NATO-freundliche Mehrheit besteht nur im Westen des Landes. In der Zentralukraine gibt es eine eher NATO-freundliche Stimmung mit abweichenden Stimmen. In den östlichen und südlichen Regionen ist Neutralität beliebter, obwohl diese Gebiete im Fall einer tatsächlichen Invasion wohl am ehesten besetzt würden.

Da die Haltung zur NATO mit verschiedenen Vorstellungen einer ukrainischen Identität korreliert, spaltet diese Frage besonders stark. Viele Ukrainer sehen die NATO als Schutz gegen Russland. Viele andere sind der Ansicht, dass eine NATO-Mitgliedschaft mit einer durch den Westen eingeschränkten Souveränität einhergehen werde. Sie meinen, dass dies bereits seit 2014 der Fall sei. Das gespannte Verhältnis zu Russland werde sich weiter verschärfen, der innere Konflikt eskalieren und das Land sich in einen der «ewigen» Kriege der USA verwickeln lassen. Dabei habe einer von diesen gerade erst in einer beschämenden Niederlage geendet.

Einiges spricht dafür, dass die Manöver des russischen Militärs im Frühjahr 2021 eine Erstarkung der NATO-Befürworter bewirkten. Ein mögliches Referendum könnte zugunsten des NATO-Beitritts ausgehen. Solche Prognosen lassen aber keine stichhaltigen Rückschlüsse auf die Präferenzen der ukrainischen Bevölkerung bezüglich der Sicherheitsstrategie zu, denn die Entscheidung würde auf ein blosses «Ja» oder «Nein» verkürzt und Millionen Bürger im Donbas und auf der Krim könnten nicht abstimmen, obwohl sie eine klare Meinung haben.

Politischer Prozess notwendig
Man sollte zwar Putins Forderung kritisieren, dass die Grossmächte die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unter sich ausmachen sollen. Gleichzeitig darf man aber auch nicht davon ausgehen, dass die Ukrainer sich einen NATO-Beitritt wünschen. Sie sind bei Weitem nicht geschlossen dafür. Die umstrittene Frage kann nur in einem politischen Prozess gelöst werden, in dem grosse Teile der andersdenkenden Ukrainer nicht ignoriert und von vornherein als «Verräter» oder «Erfüllungsgehilfen» der russischen Propaganda stigmatisiert werden, weil sie der NATO aus gutem Grund skeptisch gegenüberstehen.

Die Opposition stellt eine grosse Minderheit, bisweilen sogar die Mehrheit der Ukrainer, aber sie ist im Vergleich zu den nationalistischen und neoliberalen Strömungen der Zivilgesellschaft schlecht mobilisiert und organisiert. Auf die nationalistischen Massnahmen unter Poroschenko folgten 2021 Selenskyjs Sanktionen und Einschüchterungsversuche gegen die Führungsfigur einer populären Oppositionspartei,  mächtige Oligarchen und die meisten grossen Oppositionsmedien. Trotz Menschenrechtsverletzungen kam es in der westlichen Öffentlichkeit nicht zu grossen Reaktionen, anders als bei der Unterdrückung der Opposition in Russland und Belarus. Viele Beobachter nahmen die bequeme sicherheitspolitische Erklärung hin, dass die Unterdrückung angeblich «russlandfreundlicher» Kräfte angesichts der äusseren Bedrohung unvermeidlich oder gar gerechtfertigt sei. Weitere Beschränkungen der politischen und öffentlichen Repräsentation eines grossen Teils der ukrainischen Gesellschaft machen das Land aber nicht stärker. Sie schwächen und spalten es immer weiter.

Gemäss den Minsker Abkommen sollen die abtrünnigen Territorien im Donbas einen Sonderstatus erhalten. Das könnte entscheidend zu einer Lösung der Lage in der Ukraine beitragen. Die Vereinbarungen wurden nach einer Reihe von Niederlagen des ukrainischen Militärs zwischen 2014 und 2015 unterzeichnet, allerdings weitestgehend nicht umgesetzt. Sogar einige Befürworter bezeichnen sie als einen «widerlichen Kompromiss» mit «Russland, das seine Bedingungen unter Waffeneinsatz erzwungen hat».

Es ist wichtig, die Minsker Abkommen nicht als Entsprechung von Putins Vorstellungen zu verstehen, sondern als potenziellen Weg zu einer demokratischeren und pluralistischeren Ukraine, die ihre eigene politische Vielfalt erkennt und akzeptiert.

Volodymyr Ishchenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Auszug aus seinem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienenen Artikel in Übersetzung aus dem Englischen.

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