Anne Challandes
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Mein achtsamer Blick:

 

Chloé Ofodu, Juristin für Migranten beim HEKS

Und wenn wir alle Geflüchteten solidarisch aufnähmen? 

Februar 2022 – Putin marschiert in die Ukraine ein. Einige Wochen später führt die Schweiz einen subsidiären Schutz ein, den Schutzstatus «S»: Innerhalb weniger Tage wird es einem erlaubt, zu arbeiten und seine engsten Familienangehörigen nachkommen zu lassen. Auch die Zivilgesellschaft mobilisiert: Es wird Wohnraum zur Verfügung gestellt. Der Waadtländer Anwaltsverband bietet mir die kostenlose Hilfe von Anwältinnen und Anwälten an. In meiner Funktion als Leiterin von zwei Rechtsberatungsstellen für Asylsuchende im Kanton vertrete ich seit 13 Jahren Menschen, die vor Gefahren in ihrem Herkunftsland geflohen sind. Diese Solidarität sollte mich also freuen. Warum aber erhebt sich öffentlicher Protest, wenn die Behörden aus der Ukraine geflüchtete Menschen in einer abgelegenen, stillgelegten Kaserne unterbringen wollen – was vor wenigen Jahren, als es um Asylsuchende aus Afrika, Syrien und Afghanistan ging, niemanden störte? 

Gute Gründe, vor einem militärischen Konflikt zu fliehen, gibt es nicht erst seit vergangenem Februar. Aber bis heute erhielten Menschen, die vor solchen Konflikten fliehen müssen, in der Schweiz nur eine vorläufige Aufnahme – und die nicht innerhalb von drei Tagen, sondern erst nach einem langen Prozess, in dem sie ihre schreckliche Geschichte von einer Reise voller Gewalt und Übergriffen, dem Verlust von geliebten Menschen und einem Stück von sich selbst erzählen mussten. Am Ende dieses langwierigen Weges steht ein Ausweis «F», der es einem erst nach drei Jahren erlaubt, die Angehörigen nachkommen zu lassen – sofern man denn über ein ausreichendes Einkommen verfügt.  

Für mich als Rechtsvertreterin von Asylsuchenden ist diese Geschichte mit «S» und «F» schwer zu akzeptieren. Die unterschiedliche Behandlung ist brutal für diejenigen, die vor anderen Konflikten als jenem in der Ukraine geflohen sind. Aber auch für Menschen wie mich, die nicht unterscheiden, ob es sich beim Konflikt um einen Krieg mit einem externen Aggressor oder um einen Bürgerkrieg handelt, ob die Betroffenen aus unserem oder aus einem anderen Kulturkreis stammen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer verdienen selbstverständlich unsere Solidarität und niemand wünscht sich, dass sie bei uns mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie Kriegsvertriebene aus anderen Ländern. Aber wir haben nun bewiesen, dass wir in der Lage sind, in sehr kurzer Zeit viele Menschen bei uns aufzunehmen. Die kommende Herausforderung besteht darin, die Bereitschaft zu stärken, alle Menschen, die ein Leben in Frieden suchen, zu schützen. Und damit dem solidarischen Impuls zu folgen, den der ukrainisch-russische Konflikt in vielen von uns geweckt hat.   

Chloé Ofodu ist verantwortliche Juristin des Service d’Aide Juridique aux Exilé-e-s (SAJE) und des Bureau de Consultation juridique en matière d’asile du canton de Vaud (BCJ-Vaud) beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS). 

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